Eine kleine Literaturgeschichte des Vampirs
von Lisa Reim-Benke, Titel-Motiv: iStock.com/mattjeacock
Sie sind Nachtschwärmer mit einem Faible für heruntergekommene Burgen. Sie spielen in Rockbands und glitzern mitunter im Sonnenlicht. Sie sind Teenie-Schwärme, männerfressende Damen oder mutierte Zombies. Sie sind mal weinerlich, mal auf einem mordlustigen Egotrip. Aber vor allem sind Vampire eines: wahnsinnig vielseitig.
Dabei haben die Ursprünge des Vampirglaubens fast nichts mehr mit dem Vampir in der heutigen Literatur zu tun. Seit er den Weg aufs Papier gefunden hatte, unterlag der Vampir schon immer einem Wandel; jede Generation hat ihre ganz eigenen Vampire erschaffen. Kein Wunder, lässt sich dieses Wesen doch perfekt als Metapher inszenieren: Es steht für (unterdrückte) Sexualität, (Macht-)Gier, ewiges Leben, das Böse, Melancholie. Und somit war der literarische Vampir, wie der folgende Streifzug durch die Literaturgeschichte zeigen wird, auch immer ein Kind seiner Zeit, der uns eigentlich mehr über die Lebenden verrät als über die Welt der Untoten.
Ein Vampir geht um in Europa
Der klassische Vampir, der des Nachts seinem Grab entsteigt, um den Lebenden das Blut auszusaugen, hat seine Ursprünge in der Folklore Osteuropas und ist dabei ein Konglomerat verschiedenster untoter Wesen und Legenden. So gab es in Europa ab dem Mittelalter den Glauben an den Nachzehrer, der am liebsten zu Pestzeiten auftrat, an Leichentüchern kaute und Familienmitgliedern den Tod brachte. Außerdem zeigt der Vampir Züge des Alps, der sich auf die Brust seiner Opfer setzt und ihnen Alpträume beschert. Auch Ähnlichkeiten mit Hexen, Werwölfen oder dem s. g. Aufhocker kann man nicht bestreiten.
Laut Volksglauben sind die Möglichkeiten, ein Vampir zu werden, vielfältig und unterscheiden sich nicht selten von Region zu Region: Verbrecher, Ertrunkene und Ungläubige sind ebenso gefährdet wie Personen, auf deren Körper nach ihrem Tod ein Schatten gefallen ist, oder Menschen, die während einer Neumondnacht geboren wurden – sehr erstaunlich also, dass es auf unserer Welt nicht von Vampiren wimmelt. Auch die Abwehrmaßnahmen muten mitunter recht skurril an: Legt man wilde Rosen auf einen Sarg, kann der Vampir beispielsweise nicht mehr entkommen.
Den Höhepunkt fand dieser Vampirglaube im 18. Jahrhundert auf dem Balkan. Nach den Kriegen gegen die Türken, Seuchen und Hunger sah sich die ländliche Bevölkerung nun mit der Besatzung der Habsburger konfrontiert. Diese wiederum brachten ein bisher unbekanntes Instrument in Umlauf: die Bürokratie. Ein Glück, könnte man meinen, denn diese bescherte uns den ersten aktenkundig gewordenen Fall von Vampirismus in Europa.
Im Jahr 1725 starb in dem serbischen Dorf Kisolova ein gewisser Peter Plogojoviz. Nach seiner Bestattung folgten ihm nach kurzer schwerer Krankheit neun weitere Personen ins Grab. Davor jedoch beteuerten sie auf dem Sterbebett, Plogojoviz sei nachts zu ihnen gekommen und habe sie gewürgt. Von Blutsaugen ist in diesem Fall nicht die Rede, doch die Opfer wurden auf mysteriöse Weise ihrer Energie beraubt, bevor sie starben. Für die Bewohner Kisolovas ein eindeutiges Indiz für Vampirismus! Als Plogojoviz’ Witwe auch noch berichtete, der Verstobene sei zu ihr gekommen und hätte nach seinen Schuhen verlangt, hatten die Dörfler endgültig genug. Die Menschen wandten sich an den zuständigen Gesundheitsbeamten und baten um Erlaubnis, sich des Vampirs auf traditionelle Art anzunehmen. Der Provisor war zunächst vollkommen überfordert mit dem „Vympyri“ und ließ die Bevölkerung gewähren. Diese zögerte nicht lange: Das Grab wurde geöffnet, Plogojoviz ein Pfahl durchs Herz gerammt und die Leiche verbrannt. Der Habsburger Beamte, der bei der Prozedur ordnungsgemäß zugegen war, hielt alles schriftlich fest und vermerkte zu seinem Erstaunen, wie frisch und wohlgenährt die Leiche doch ausgesehen hätte und wie viel frisches Blut nach der Pfählung aus dem Leichnam ausgetreten sei – sollte es sich also tatsächlich um einen Vampir gehandelt haben?
Ähnliche Berichte häuften sich in den folgenden Jahren, sodass sich bald Gerüchte über eine Vampirseuche in Westeuropa verbreiteten, wo diese natürlich für Aufsehen sorgten. Gerade war das Zeitalter der Aufklärung angebrochen, weshalb dem Vampir gleich mehrere Fallstudien gewidmet wurden; Mediziner, Philosophen und Theologen gleichermaßen hatten etwas zur Debatte um den Vampirismus beizutragen. Diese Diskussionen sind bemerkenswert vielseitig: Die Theologen halten sich an die christlichen Dogmen, wonach der Vampir die Ausgeburt des Bösen sei und bekämpft werden müsse. In diesem Zusammenhang entsteht der Glaube, dass Vampire durch christliche Symbole wie das Kruzifix oder Weihwasser ferngehalten werden könnten – was im Gegensatz steht zu den „heidnischen“ Abwehrmitteln, wozu auch das allseits beliebte Arzneimittel Knoblauch gehört. Andere Gelehrte sind mehr der Wissenschaft zugeneigt, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie die Vorgänge im Osten als Humbug abtun würden. Viele versuchen stattdessen, den Vampir wissenschaftlich zu erklären, und gelangen so zu haarsträubenden Theorien.
Der Gelehrte Michael Ranft stellt sich vehement gegen solcherlei Kapriolen und veröffentlicht 1734 eine umfangreiche Dissertation zum Thema: „Vom Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern“. Dämonisches Treiben lehnt er als Erklärung kategorisch ab. Stattdessen dröselt er in Kleinstarbeit auf, wie die Psychologie der Menschen und der natürliche Verwesungsprozess leicht zu abergläubischen Rückschlüssen führen können. Sein moderner Ansatz entmystifiziert die Geschehnisse rund um den Fall Plogojovitz. Das wiederum fanden viele seiner Mitstreiter jedoch ganz und gar nicht hilfreich und hielten mit aus heutiger Sicht kruden Beiträgen die Debatte um den Vampir am Leben.
Nachdem schließlich ein ganzer Friedhof umgegraben und 20 „Vampiren“ auf einmal der Garaus gemacht wurde, spricht Kaiserin Maria Theresia ein Machtwort und unterzeichnet 1755 einen Erlass, der die Untoten für Aberglauben erklärt und die Vampirjagden offiziell verbietet. Doch der Siegeszug des Blutsaugers war längst nicht mehr aufzuhalten – der Weg für den Vampir in die Literatur war geebnet.
- Johann Flückinger: Actenmäßiger Bericht über die Vampirs, so sich zu Medvegia in Servien an der Türckischen Gräntzen sollen befunden haben, 1732
- Johann Christoph Harenberg: Vernünftige und Christliche Gedancken über die Vampirs, 1733
- Leonhardt Ludwig Finke: Von Servien, 1792
Zögerliche Anfänge: Vampir-Literatur im 18. Jahrhundert
Obwohl sich im 18. Jahrhundert zunehmend Berichte und Abhandlungen über den Vampir in Europa verbreiteten, wagte sich die schöngeistige Literatur nur zaghaft an die Blutsauger heran. Der erste deutschsprachige literarische Vampirtext stammt aus dem Jahre 1748 und ist ein Gedicht des Lessing-Jugendfreunds Heinrich August Ossenfelder. Leider ist „Mein liebes Mägdchen glaubet“ in seiner Schlichtheit nicht unbedingt ein großer Wurf gewesen. Der Protagonist möchte ein Vampir werden, um ein Mädchen zu verführen und so die tugendhafte Mutter zu übertrumpfen. Nicht nur dient hier der böse Vampir als Waffe gegen christliche Werte und Rechtschaffenheit, Ossenfelder erschafft mit dem Vampir als sexualisiertes Wesen bereits ein Charaktermerkmal, das die Vampirliteratur eines jeden Jahrhunderts enorm prägen sollte.
Erst Jahrzehnte später führt niemand geringeres als Johann Wolfgang von Goethe das Vampirmotiv weiter aus. Im Balladenjahr 1796 erscheint sein Gedicht „Die Braut von Korinth“. Wie Ossenfelder erschafft auch er einen Topos, der immer wieder bemüht werden sollte: Die tote Geliebte, die als Vampir wiederkehrt, um ihrem Liebsten das Blut auszusaugen. Somit wird die verführerische Kraft des Vampirs bereits in den ersten literarischen Versuchen zu diesem Thema etabliert.
- Robert Southey: Thalaba the Destroyer, 1797
Der Blutsauger tobt sich aus: Vampir-Literatur im 19. Jahrhundert
Auch im 19. Jahrhundert geht es für den Vampir zunächst in der Lyrik weiter. Karoline von Günderrode schließt sich dem Trend mit ihrem (in jeder Hinsicht) grauenvollen Gedicht „Die Bande der Liebe“ an, wohingegen Samuel T. Coleridgemit„Christabel“ eine beeindruckende, aber unvollendete, Ballade vorlegt, die sogar dem Dichter Percy Shelley einen Nervenzusammenbruch bescherte.
Mit dem Aufkommen der Romantik als Literaturepoche finden die Blutsauger nun auch in Prosatexten ihren ersten Höhepunkt. Die Schauerromantik und die englische Gothic Novel bilden für den Vampir dabei den perfekten Nährboden, um sich zu entfalten.
Prägend ist hier das Jahr ohne Sommer 1816, während dem am Genfer See ein für die Literaturgeschichte bedeutendes Treffen stattfindet: Percy Shelley, Mary Godwin (später Mary Shelley), Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori erzählen sich in einer regnerischen Nacht Geistergeschichten, um die Langeweile zu vertreiben. Bei dieser literarischen Jam-Session entsteht nicht nur Mary Shelleys „Frankenstein“, sondern auch der erste erhaltene Prosa-Vampirtext. Auf der Grundlage eines Fragments von Lord Byron veröffentlicht John Polidori 1819 die Erzählung „Der Vampyr“. Sein Protagonist ist Lord Ruthven, der erste blutsaugende Aristokrat der Literaturgeschichte und eine Hommage an Lord Byron.
Der Text schlägt ein wie eine Bombe. In den folgenden Jahrzehnten inspiriert er zahlreiche andere Schriftsteller, wird mehrfach für die Bühne adaptiert und liefert somit gleichzeitig den Stoff für das erste Theaterstück, das eine Vampirgeschichte erzählt. Auch die Oper darf sich bald an Lord Ruthven erfreuen: Heinrich Ludwig Ritter adaptierte Polidoris Text 1822 als Schauspiel, woraus später eine Version für die Oper entstand.
Während des Hypes um Polidoris Meilenstein entstehen natürlich noch jede Menge weiterer Vampirtexte, vornehmlich von männlichen Autoren, die eine Vorliebe für weibliche Vampire haben. Damit greifen sie den anfänglichen Trend über die „Vampirbräute“ wieder auf und verschärfen diesen sogar noch. Heraus kommen eine ganze Reihe blutdürstiger Femme fatales, die mit ihrer „gefährlichen“ weiblichen Sexualität so manchem Helden zum Verhängnis werden. Bei der Ausgestaltung der Geschichten beweisen die Autoren jedoch nur wenig Einfallsreichtum: Ein Mann lernt eine mysteriöse, wunderschöne Frau kennen, er verfällt ihr mit Haut und Haaren, sie stellt sich später als Vampir heraus und muss ausgeschaltet werden – das Schema etlicher Vampirerzählungen dieses Jahrhunderts. Théophile Gautiers „Die liebende Untote“ von 1836 ist dafür wohl das Paradebeispiel. Nicht unerwähnt bleiben darf jedoch, dass auch einige Autorinnen sich dieses Trends nicht erwehren konnten; so schrieb Anne Crawford mit „A Mystery of the Campagna“ 1886 eine Vampirerzählung, die genau diesem Handlungsmuster folgt.
Auch deutschsprachige Autoren lassen es sich nicht nehmen, sich an der Vampirmanie zu beteiligen, darunter bekannte Größen wie Heinrich Heine und E. T. A. Hoffmann. Dem heute eher unbekannten Schriftsteller E. B. S. Raupach gelingt 1829 sogar ein besonderer Kniff: In seinem Werk „Die Blutbaronin“ greift er die Legende um die ungarische Gräfin Elisabeth Báthory auf, die um das Jahr 1600 angeblich in dem Blut ihrer Dienerinnen badete, um ihre Schönheit zu bewahren. Auch sie galt in der Bevölkerung als Vampir.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Vampir also in der Populärkultur Europas angekommen. Selbstverständlich macht er dabei auch nicht vor den „Penny Dreadfuls“ Halt, die in der Mitte des Jahrhunderts in London kursieren; billige serielle Veröffentlichungen, die reißerische Geschichten erzählen, um die Arbeiterschicht zu unterhalten. So erschafft James Malcolm Rymer 1845 „Varney, der Vampir“, viktorianischen Trash vom Feinsten, aber herrlich komisch aus heutiger Sicht. Und mit Varney haben wir unseren ersten Untoten, der das Bild des durch die Fenster in das Schlafzimmer der vornehmlich weiblichen Opfer eindringenden Vampirs prägt. Zwei Jahre lang sucht Varney erfolgreich die Londoner Bevölkerung heim, bis nach rund 200 Episoden Schluss ist.
Neben Varney treibt sich auch der „Skeleton Count“ in den Penny Dreadfuls herum, der erste von einer Frau geschriebene Prosa-Vampirtext. Diesen Blutsauger erschuf Elizabeth Caroline Grey 1828, doch ihr Werk ist leider in der Bedeutungslosigkeit versunken.
Den nächsten Meilenstein lieferte Sheridan Le Fanu mit seiner Novelle „Carmilla“ 1872. Er orientierte sich dabei an Coleridges Ballade „Christabel“; seine Blutsaugerin Carmilla ist ebenfalls eine lesbische Vampirin, die die junge Laura verführt und ihr langsam aber sicher das Leben entzieht. Am Ende gibt es dann eine ordentliche Vampirvernichtung mit Pflock und allem, was dazu gehört – nur die gute Laura sollte sich von diesem Schock nie vollständig erholen.
Auch die französische Literatur ist bei dem Vampir-Trend gut dabei. Alexandre Dumas verfasst 1849 „La Dame Pale“ und mit nur 19 Jahren schreibt Marie Nizet 1879 die Kriegsgeschichte „Le Capitaine Vampire“. Charles Baudelaire veröffentlicht in seiner berühmten Gedichtsammlung „Les Fleur du Mal“ gleich mehrere Vampir-Texte. „Les Métamorphoses du Vampire“ musste sogar aufgrund des „unmoralischen“ Inhalts wieder entfernt werden.
Eine wahre Perle der Vampirliteratur, jedoch kaum bekannt, ist die Geschichte „Schon neunzig Jahre …“ des serbischen Autors Milovan Glišić. Losgelöst von den gängigen Vampir-Klischees dieses Jahrhunderts und stark an den serbischen Vampirglauben angelehnt schildert Glišić 1880 die irrwitzige Vampirjagd einer eigenwilligen Dorfgemeinschaft. Eine erfrischend andere Vampirgeschichte!
- E. T. A. Hoffmann: Cyprians Erzählung, 1821
- Heinrich Heine: Helena, 1844 [Gedicht]
- Alexei Tolstoi: La Famille du Vourdalak, 1884 (Die Familie des Wurdalak)
- Julian Osgood Field: The Kiss of Judas, 1893 (Der Judas-Kuss)
- Eric, Graf Stenbock: A True Story of a Vampire, 1894
- F. G. Loring: The Tomb of Sarah, 1897 (Das Grabmal Sarahs)
- Augustus Hare: And the Creature Came in, 1899
Der Urvater aller Vampire: Dracula
Jeder kennt ihn, obwohl nicht alle den Roman gelesen haben: „Dracula“ von Bram Stoker. Er gilt als DER Vampirroman schlechthin; tatsächlich ist er der längste Vampirtext, den es bis zu diesem Zeitpunkt gab (klammert man Varneys Episoden-Abenteuer einmal aus). Dabei erschien „Dracula“ erst 1897 – und floppte bei seinen Lesern.
Mit diesem Roman erschafft der Ire prägende Figuren. Dracula, dessen Vorbild möglicherweise der umstrittene Volksheld Vlad III. genannt Tepesch, der Pfähler, war, ist der Archetyp eines Vampirs. Genauso wie sein Widersacher van Helsing, der kultige Vampirjäger, wurde er mehrmals kopiert, adaptiert und parodiert. Aber was macht „Dracula“ so besonders?
Stokers Vorgänger bedienten sich des Vampirs und dachten ihn sich so zurecht, wie es für ihre Geschichte gerade dienlich war. Mal als Femme fatale, mal als gieriger Aristokrat, mal blutsaugend, mal energiezehrend war der Vampir immer Mittel zum Zweck. Die Autoren verwendeten Elemente aus der Folklore, fügten eigene Ideen hinzu oder bedienten sich bei anderen Werken. Auch Bram Stoker tut genau das – nur so umfangreich und präzise wie keiner vor ihm. Draculas Wesen und seine Eigenheiten spielen in dem Roman eine tragende Rolle, so sehr wie noch nie zuvor. Besonders bei der Folklore bedient sich Stoker dabei reichlich, er vermischt Elemente und kreiert eine ganz neue, fatale Mischung. Pfählen, Knoblauch und die Abwehr von Vampiren durch kirchliche Symbole finden sich ebenso in dem Roman wie auch Dinge, die zuvor nicht unbedingt mit Vampiren in Verbindung gebracht wurden, aber heute als typische Vampir-Merkmale gelten: Dracula kann sich in Fledermäuse verwandeln und mit Wölfen kommunizieren, er meidet das Sonnenlicht, muss in einem Sarg schlafen, hat kein Spiegelbild. So erschafft Bram Stoker einen ganz eigenen Vampirmythos, der heutzutage jedoch als das einzig wahre Vampirbild gilt und dem nicht zuletzt der legendäre Stummfilm „Nosferatu“ von 1922 zu seinem unsterblichen Ruhm verhalf.
- Bram Stoker: Dracula’s Guest, 1914 (Draculas Gast)
Die Eroberung der Genres: Die Vampirliteratur im 20. Jahrhundert
Nach einem fulminanten 19. Jahrhundert rückt der literarische Vampir mit dem Aufkommen des Films erst einmal in den Hintergrund. Doch cineastische Erfolge wie „Nosferatu“ (eine unlizenzierte Adaption von „Dracula“, die einen großen Rechtsstreit nach sich zog), lösten eine neue Vampirwelle aus. Und so wie sich die gesamte Welt im großen Wandel befindet, macht auch der Vampir eine rasante Entwicklung durch.
Zu Beginn finden sich noch die klassischen Vampirerzählungen, die sich den Traditionen der Gothic Novel verschrieben haben. Doch mit Etablierung der verschiedenen Genres ist das Herrschaftsgebiet des Vampirs nicht mehr länger auf die Schauerliteratur beschränkt. Nun findet er sich auch in Werken der Kriminalliteratur (Arthur Conan Doyle: „Der Vampir von Sussex“, 1924), der Science-Fiction (Gustave Le Rouge: „Le prisonnier de la planète Mars“, 1908) und in Texten mit postapokalyptischen Themen (Richard Matheson: „Ich bin Legende“, 1954).
Doch dem Einfluss Draculas kann sich natürlich niemand entziehen, das gilt sowohl für die Literatur als auch für die Filmwelt, die sich gerne gegenseitig beeinflussen. Während Bela Lugosi und Christopher Lee sich als Dracula-Darsteller auf den Kinoleinwänden in die Hälse junger Frauen verbeißen, widmet sich auch eine ganze Reihe Texte dem Fürsten aller Vampire; sie setzen seine Geschichte fort (Kim Newman: Anno-Dracula-Reihe, 1992-2019), verlegen den Klassiker in ein modernes Setting (Stephen King: „Brennen muss Salem“, 1975) oder versehen die Geschichte mit einem Twist (Robert Saberhagen: Dracula-Tapes-Reihe, 1975-2002).
Eine erneut große und einflussreiche Veränderung macht der Vampir bei Anne Rice durch. In „Interview mit einem Vampir“ von 1976 (und in den zahlreichen Folgebänden) zeigt sich der Blutsauger als melancholisches und tiefsinniges Opfer seiner selbst und kann sogar als Rockstar überzeugen.
Damit hat die Humanisierung des Vampirs begonnen und schreitet unaufhaltsam fort. Er ist nicht mehr länger ein Monster, sondern sogar der Held der Geschichte. Ein Trend, der dafür sorgte, dass man ihn nun auch in der Kinderliteratur antrifft. Dabei steht der Vampir als Außenseiter der Gesellschaft für ein klares Toleranzpostulat, mit dem u. a. Angela Sommer-Bodenburg mit ihrer Reihe um den kleinen Vampir (1979-2008) und Renate Welsh mit der Vamperl-Reihe (1979-2008) große Erfolge verzeichnen konnten und sympathische Vampir-Helden ins Kinderzimmer brachten.
- Mary E. Wilkins Freeman: Luella Miller, 1902 (Luella Miller)
- Francis Marion Crawford: For the Blood is the Life, 1905 (Denn das Blut ist das Leben)
- K. H. Strobl: Das Aderlaßmännchen 1909, Das Grabmal auf dem Père Lachaise 1914
- E. F. Benson: The Room in the Tower, 1912 (Das unheimliche Turmzimmer)
- Alice und Claude Askew: Aylmer Vance and the Vampire, 1914 (Aylmer Vance – Abenteuer eines Geistersehers)
- Toni Schwabe: Der Vampir, 1920
- Hanns Heinz Ewers: Vampir, 1921
- E. F. Benson: Mrs. Amworth, 1923 (Mrs. Amworth)
- Robert E. Howard: The Horror from the Mound, 1932 (Das Grauen aus dem Hügelgrab)
- Frederick Cowles: The Vampire of Kaldenstein, 1938
- Ingeborg Bachmann: Heimweg, 1956 [Gedicht]
- Josef Nesvadba: Upir ltd, 1962 (Vampir Ltd.)
- Miodrag Bulatović: Ljudi s cetiri prsta, 1975 (Die Daumenlosen)
- Colin Wilson: The Space Vampires, 1976 (Vampire aus dem Weltraum)
- Whitley Striber: The Hunger, 1981 (Der Kuss des Todes)
- Brian Lumley: Necroscope-Saga, 1986-2009 (Necroscope)
- Elfriede Jelinek: Krankheit oder moderne Frauen, 1987
- Dan Simmons: Children of the Night, 1992 (Kinder der Nacht)
- Roderick Anscombe: The Secret Life of Laszlo, Count Dracula, 1994 (Das geheime Leben des Laszlo Graf Dracula)
- Tom Holland: The vampyre. Being the true pilgrimage of George Gordon, Sixth Lord Byron, 1995 (Der Vampir)
Für den Vampir gibt es keine Grenzen mehr
Im folgenden Jahrhundert gibt es für den Vampir kein Halten und auch keine klare Linie mehr. Er ist die wandelbarste Horrorgestalt, die unsere westliche Literatur zu bieten hat: Kein Trend ist mehr vor ihm sicher, kein Genre, keine Altersgruppe, kein Medium. Die traditionellen Vampir-Merkmale spielen teilweise sogar keine Rolle mehr, sodass er beinahe bis zur Unkenntlichkeit modifiziert werden kann. In der Twighlight-Reihe (2005-2008) von Stephenie Meyer wird für viele allerdings eine Grenze überschritten. Gegen die verkitschte Romantisierung des Vampirs als glitzernder Romanheld wird dabei häufig der „einzig-wahre“ Dracula-Typus ins Feld geführt – ohne zu Bedenken, dass auch Stoker ganz eigene und mitunter wilde Veränderungen an dem bis dahin geltenden Bild des Vampirs vorgenommen hatte.
Alles also halb so wild; den manchmal auch drastisch erscheinenden Veränderungen wird sich der Vampir nie entziehen können. Teenie-Schwarm, Dracula, Gothic-Rocker, Femme fatale, Zombie, oder, oder, oder – genau diese unendlichen Möglichkeiten sind es letztendlich, die den Vampir unsterblich machen.
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