Christmasland

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2013
  • 2
Christmasland
Christmasland
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2013

(Sehr) lange Verfolgungsjagd durch diverse Dimensionen

Victoria "Vic" McQueen ist nicht nur mit dauerhaft zerstrittenen Eltern, sondern auch mit einer seltsamen Gabe geschlagen: Wenn sie auf dem geliebten Fahrrad ihr Heimatstädtchen Haverhill im US-Staat Massachusetts verlässt, stößt sie manchmal auf die "Shorter Way Bridge", eine überdachte Brücke, die allerdings längst abgerissen wurde. Wenn Vic sie trotzdem überquert, landet sie dort, wo sie zu landen wünscht, denn die Brücke bildet eine Art Dimensionstor, das reale Entfernungen überwindet.

Die junge Vic benutzt die Brücke gern, bis sie Charlie Manx begegnet. Auch er ist übernatürlich begabt. Anders als Vic bereist er die fremde Dimension – die "Ingestalt" – selbst, wobei er in seinem geliebten Rolls Royce Wraith, Baujahr 1938, unterwegs ist. Manx entführt Kinder, die er angeblich ins Christmasland bringt, wo sie ewig jung und glücklich bleiben. Tatsächlich ist Manx ein Seelendieb, der sich mit der Gefühlsenergie seiner Opfer mästet. Während er auf diese Weise ein unnatürlich langes Leben führen kann, verwandelt sich die Kinder in seelenlose, mörderische Kreaturen.

Auch Vic soll dieses Schicksal teilen, doch sie kann Manx entkommen, der kurz darauf von der Polizei gestellt und eingesperrt wird. Manx fällt in ein Koma, Jahre später stirbt er – scheinbar, denn tatsächlich nimmt er, unterstützt vom wahnsinnigen Bing Partridge, sein unnatürliches Leben wieder auf. Manx hat die Niederlage nicht vergessen, die Vic ihm einst beibrachte, und sinnt auf Rache.

Vic ist inzwischen selbst Mutter geworden. Der zwölfjährige Wayne passt genau in Manx' Beuteschema, weshalb ihn der untote Killer kidnappt. Auf die Polizei kann Vic nicht zählen, denn Manx gilt als tot. Stattdessen rückt die Mutter zur Hauptverdächtigen auf. Nachdem sie ihr Talent viele Jahre verdrängt hat, beginnt Vic über die "Shorter Way Bridge" die Verfolgung von Charlie Manx, der sich mit Wayne auf den Weg ins Christmasland gemacht hat ...

Wie der Vater ...

Sollte Joe Hill vorgehabt haben, nachdrücklich aus dem Schatten seines Vaters Stephen King zu treten, hat er mit "Christmasland" eine Pause eingelegt. Hill spricht es im Nachwort selbst an: "Vermutlich folge ich schon mein ganzes Leben seinen Spuren. Ich bereue es nicht." (S. 796) Diesen Roman hätte in der Tat der Senior schreiben können. Das ist gleichermaßen erfreulich wie ärgerlich: Es kann gar nicht genug gute Autoren geben, die ihr Publikum in Angst & Schrecken zu versetzen vermögen. Auf der anderen Seite haben wir schon einen Stephen King, der zudem nicht plant, sich aufs Altenteil zurückzuziehen.

Stattdessen verstärkt Joe Hill das King-Franchise, das mit ziemlicher Sicherheit bald damit beginnen wird, auch sein Werk multimedial zu vermarkten. Christmasland eignet sich verdächtig gut für eine Verfilmung; der Umfang lässt eine TV-Mini-Serie erahnen. Formal wie inhaltlich ist der junge Hill vom späten King zumindest in der deutschen Übersetzung nicht zu unterscheiden.

800 Seiten lassen ein wahres Epos erwarten. Tatsächlich erzählt Hill eine Geschichte in Fortsetzungen. Ein roter Faden läuft durch, doch ein Handlungsbogen wölbt sich nicht über dem Geschehen. Christmasland ist eine eindimensionale Verfolgungsjagd, die sich dank mehrerer Zeitebenen episch gibt, wo sich schlicht Ereignis an Ereignis reiht. Das ist dank Hills schriftstellerischen Talents in der Regel unterhaltsam. Dennoch wird das Konstruktionsprinzip allzu deutlich.

Die Kraft des Geistes

Daran trägt die unmäßige Länge dieser Geschichte eine Mitverantwortung. Christmasland könnte gut und gern auf einige hundert Seiten verzichten. Noch das einfachste Geschehen wird unnötig aufgeblasen. Charlie Manx wiederholt seine Untaten und vor allem das Gerede darum, bis wir uns wünschen, dass er endlich seinen silbernen Hammer schwingt und das Christmasland erreicht. Faktisch geschieht zu wenig, um die Schwemme ausführlicher Landschafts- und Stimmungsbeschreibungen zu rechtfertigen.

Darunter leiden auch die ansonsten gelungenen Figurenzeichnungen. Hill hat von seinem Vater gelernt, wie man Leser für Personen interessiert, die entweder bitterböse oder ´gut' sind aber Ecken & Kanten aufweisen. Normalität bei Abwesenheit tief eingefahrener Klischees ist hier das Zauberwort. Vic McQueen ist deshalb zugleich echte Heldin und gestörte Frau, Mutter und Bürgerin: psychisch beschädigt, suchtkrank, irrational und zu allem Überfluss Opfer, denn sie hat sich ihr ´Talent', die "Ingestalt" zu nutzen, nicht ausgesucht. Leider kann Hill kein Ende dabei finden, entsprechende Szenen zu beschreiben, obwohl wir bereits begriffen haben, wieso Vic ist, wie sie ist.

Charlie Manx ist als Widersacher vor allem ein Entertainer. Er ist weder besonders klug noch einfallsreich, weshalb unklar bleibt, wieso er so viele Jahre erfolgreich kidnappen und morden konnte. Hill versucht eine Erklärung: Manx wird "unterstützt" von seinem Rolls Royce Wraith, einer Art Christine, wie Stephen King sie 1983 auf die Welt losließ – ein böse "beseeltes" Automobil, das über einen eigenen Willen und besondere Fähigkeiten verfügt. Was in oder hinter dem Wraith steckt, bleibt jedoch offen; eine klaffende Logik-Lücke im Geschehen – und beileibe nicht die einzige.

"It's a long way to Tipperary"

Es ist paradox, wie lang sich eine Reise hinziehen kann, selbst wenn es die Möglichkeit gibt, sie durch Dimensionsbrücken oder -tunnel abzukürzen. Dass Charlie Manx sich seinem Ziel auf einem erratisch anmutenden Zickzack-Kurs nähert, ist jedenfalls vor allem der Notwendigkeit geschuldet, ihn für Vic MacQueen angreifbar zu machen oder Wayne Fluchtmöglichkeiten zu bieten, die natürlich jedes Mal scheitern, denn er ist der Preis, um den es im Finale zu kämpfen gilt.

Für weitere Verzögerungen sorgt Bing Patridge, der "Lebkuchenmann". Er ist der Sekundär-Bösewicht, wie er als treuer aber beschränkter Handlanger des Oberschurken u. a. in jedem James-Bond-Thriller auftritt. Exotische Tode sind seine Spezialität, aber seine wichtigste Aufgabe ist die Einleitung des großen Finales: Bevor es dem eigentlichen Übeltäter an den Kragen geht, muss der Held – hier weiblichen Geschlechts – sich dessen Henker stellen. Der Kampf wogt mächtig, doch der Ausgang steht fest: Den Stellvertreter-Schuft erwischt es stets, wobei sein Ende bizarr ausfällt: Schließlich "verdient" er einen grausamen Tod, den ihm der Held pflichtschuldig beschert. Bis es soweit ist, fragt man sich, wieso Manx überhaupt einen Gehilfen benötigt. Er hat seinen Untod gut im Griff, und Bing ist ein Trottel: Als er Vic umbringen soll, schießt er versehentlich seinem Meister Manx ein Ohr vom Kopf.

Weitere Nebenfiguren sorgen für neue Verzögerungen. Der dicke Lou (Waynes Vater), der familienscheue Chris (Waynes Opa), die taffe FBI-Beamtin Tabitha Hutter, die "Bibliothekarin" Maggy Leigh: Sie verkörpern jenes Fundament aus Familie und Freundschaft, das Hill wie King als zentrales Element der menschlichen Stärke definieren. Hier wird es verdrießlich weil unnötig oft durchgespielt, statt die Handlung voranzutreiben.

Endlich am Ziel!

Aber schließlich kommen alle für das Finale relevanten Figuren im Christmasland an. Vielleicht ist es sogar gut, dass Hill sich hier nicht allzu lang aufhält, denn das Schreckensland des Charlie Manx entpuppt sich als recht beliebige Horror-Kulisse. Wenn man die Weihnachtsschraube überdreht, entwickelt sich das Fest der Liebe zu einem Schreckensszenario. Das haben wir literarisch wie filmisch schon zu oft erfahren, um nicht zu merken, dass dem Verfasser nichts wirklich Erschreckendes eingefallen ist.

Hill "erklärt" dies mit der beschränkten Fantasie des Charlie Manx, der Christmasland kraft seines nicht besonders hellen Geistes erschaffen hat. Das ist eine schwache Ausrede, die den Leser schwerlich dafür entschädigt, mehr als 700 Seiten durchgehalten zu haben. Zudem ist Hills "Lösung" des Christmasland-Problems beinahe eine Frechheit: Es wird mit hausgemachtem Sprengstoff in die Luft gejagt – eine sehr amerikanische "Lösung", die jeglicher Gruselstimmung den Garaus macht. Glücklicherweise findet Hill zu einem Epilog, der zwar hart am Rand des Kitsches aber stimmungsvoll diese Geschichte abrundet (sowie das übliche Schlupfloch für eine Fortsetzung gräbt).

Dass Christmasland trotz vor allem im Mittelteil knirschender Storyline gut über die Runden kommt, liegt an der formalen Routine, die Autor Hill an den Tag legt. Er hat von seinem Vater gelernt, wie man eine Geschichte erzählt. Das Publikum will unterhalten werden. Dafür gibt es Regeln und Tricks. Hill beherrscht sie, und er hat auch die Fähigkeit geerbt, Szenen plastisch bzw. bildhaft zu schildern. Auf die im heutigen Horror so beliebten Stakkato-Stammeleien ist Hill nicht angewiesen. Dafür ist man dankbar und hofft darauf, dass Hill lernen wird, wird man einer guten Geschichte die überflüssige Luft ablässt.

Christmasland

Joe Hill, Heyne

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