Zeitstrom wird zum Mahlstrom
Im frühen 21. Jahrhundert steht die Welt durch einen dritten Weltkrieg vor dem Untergang. Die US-Regierung schickt mit einer gerade entwickelten Zeitmaschine eine Spezialeinheit der Armee in die Vergangenheit, wo sie den Auslöser des Krieges eliminieren soll. Das Gerät ist kaum erprobt, weshalb die 148 berittenen Männer und Frauen der Kompanie 147 nicht wie geplant in den 1930er Jahren landen, sondern mindestens ein halbes Jahrtausend zurückreisen. Dort sitzen sie fest, denn die Maschine gibt ihren Geist auf.
Im Zeitstrom völlig verloren ging der Soldat Madison Yazoo Leake, der sich allein in der Vergangenheit durchschlagen muss. Er kann sich einem freundlich gesonnenen Indianerstamm anschließen und wird vom Pfeifenmacher Dauerte-seine-Zeit unter die Fittiche genommen. Schnell wird Leake klar, dass mit dieser Vergangenheit etwas nicht stimmt: Dauerte-seine-Zeit ist in Griechenland geboren und kam mit arabischen Händlern nach Nordamerika. Regelmäßig steuern dampfgetriebene Schiffe die gar nicht mehr "neue" Welt an. Von einem Seefahrer namens Kolumbus hat niemand gehört. Auch das Römische Imperium hat es nie gegeben.
Während Leake sich einlebt, kommt es anderenorts zur Konfrontation zwischen Soldaten und Ureinwohnern. Die Fremden haben Krankheitserreger aus der Zukunft mitgebracht, denen die Indianer nichts entgegenzusetzen haben. Sie sterben, und die Überlebenden wollen Kompanie 147 den Garaus machen.
Im Juni des Jahres 1929 zerbrechen sich die Archäologen Dr. Kincaid und Bessie Level ihre Köpfe. Bei Ausgrabungen im US-Staat Louisiana sind sie unweit des Mississippis auf ein rätselhaftes Gräberfeld gestoßen, das nicht nur Pferdeknochen enthält, sondern auch Munition, die eindeutig aus modernen Waffen abgefeuert wurde. Zunehmend verzweifelt versuchen die Forscher, die Funde zu deuten, die mit steigender Grabungstiefe immer verrückter werden ...
Der Zeitstrom als Mahlstrom
Die klassische Zeitreise ist gefährlich, weil der Mensch der Zukunft – wir beschränken uns an dieser Stelle auf den Rücksturz in die Vergangenheit – primär als Eindringling auftritt, der selbst ohne böse Absichten Ungutes anrichtet. Echte Manipulationen sind erst recht riskant, weil sich die Folgen nie absehen lassen. Würde sich diese Welt tatsächlich in ein Paradies verwandeln, wenn ein mörderischer Stoßtrupp am 20. April 1889 das Haus der Familie Hitler in Braunau am Inn heimsuchte?
Auch der Zufall kann hässliche Folgen zeitigen. Viele Zeitreise-Geschichten enden mit jenem Schlussgag, nach dem der Besucher aus der Zukunft (beispielsweise) seinen Quadratlatschen ausgerechnet auf jene Ur-Spitzmaus setzt, die von der Evolution als Vorfahre des Menschengeschlechts auserkoren war.
Doch kann eine kleine Ursache tatsächlich für so große Wirkungen sorgen? Howard Waldrop, der sich als Autor immer wieder mit der Zeitreise und mit alternativen Historien beschäftigt, hat eine andere Theorie. Er vertritt die Ansicht, dass sich die Zeit durchaus gegen Veränderungen ´wehren' kann, indem sie diese einfach "schluckt". Die Zeit wird gern als flussähnlicher Strom dargestellt. Bleibt man bei diesem Bild, kann dieser Strom recht reißend werden und eventuelle Hindernisse einfach fortspülen, wodurch sie spurlos verschwinden.
Ein kluger Mann macht sich Gedanken
Ihre Gebeine ist ein merkwürdiger Romantitel. Dabei wurde er sogar korrekt ins Deutsche übersetzt: "Them Bones" hat Waldrop sein Buch 1984 genannt. Er tat dies mit Bedacht und bezog sich auf ein altes Kinderlied, das in den USA immer noch gern gesungen wird: "Dry Bones" heißt es, ein Gospel-Song, in dessen Refrain es heißt:
"Them bones, them bones gonna walk around,
I hear the word of the Lord."
Dieses Lied ist die eingängige Vertonung der Auferweckungsvision des Propheten Ezechiel (Ez. 37,1–14), der im Alten Testament der Bibel "sieht", wie es sich in einem von Skeletten übersäten Tal rührt und sich die Knochen auf Gottes Geheiß zu lebendigen Menschen zusammenfügen.
Mehrfach zitiert Howard aus einem Buch, das der englische Arzt, Philosoph und Schriftsteller Sir Thomas Browne (1605-1682) veröffentlicht hat: "Hydriotaphia: Urn Burial, or a Discourse of the Sepulchral Urns lately found in Norfolk" ist einerseits die Beschreibung einer frühen archäologischen Ausgrabung, die 1658 in der Grafschaft Norfolk ein römisches Gräberfeld freilegte. Browne nutzte andererseits die Gelegenheit, sich Gedanken über den Menschen, seine Sterblichkeit und seinen Status im Strom der Zeit zu machen. Er kam zu einem eher negativen Schluss und neigte dazu, den Menschen – seinen Ruhm und sein Werk – untergehen zu sehen:
"Grabsteine erzählen kaum vierzig Jahre die Wahrheit, Generationen vergehen, während einige Bäume stehen, und alte Familien überdauern keine drei Eichen." (S. 59)
Manipulation ohne echtes Wissen
Nicht grundlos zitiert Waldrop Browne so ausgiebig, denn die Handlung scheint den Zitaten zu folgen. Selten ist ein Vorstoß in die Vergangenheit so kläglich gescheitert bzw. im Fluss der Zeit verschwunden wie Kompanie 147. Schon die Voraussetzung ist denkbar ungünstig: Die Zeitmaschine ist ein Provisorium, das aus Verzweiflung in Betrieb genommen wird. Im (zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Romans) zukünftigen Jahr 2002 steht die Menschheit vor dem Abgrund. Allein die Veränderung der Vergangenheit könnte die verloren Gegenwart retten.
Genaues weiß man freilich nicht. Deshalb führt nicht die Fehlfunktion der Maschine zum Scheitern der Expedition. Unverdrossen erweitert Colonel Spaulding das ursprüngliche Vorhaben zum 500-Jahres-Plan. Auch sonst setzt er auf bewährte Routinen, die im militärischen Umfeld seit jeher stark ausgeprägt sind. Lässt sich die (zukünftige) Gegenwart ändern, wenn man ein halbes Jahrtausend früher an der Vergangenheit schraubt? Falls dem so ist, vermasselt es Spaulding. Mit den Waffen, der Ausrüstung und dem Selbstbewusstsein bringen die ungebetenen Gäste auch die Krankheiten ihrer Zeit mit. Zwar unbeabsichtigt aber nichtsdestotrotz tödlich wiederholt sich die Geschichte: Das Immunsystem der einheimischen Amerikaner kommt gegen die Erreger aus der Zukunft nicht an.
Die Soldaten können dies nicht mit dem üblichen bedauernden Achselzucken abtun und sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren: Die ´primitiven' Indianer sind Kinder ihrer Zeit und ihrer Umgebung. Sie belauern und belagern die Fremden, die sie als Verantwortliche für ihr Leiden erkannt haben, und ihrer geduldigen Guerilla-Taktik haben die Soldaten nichts entgegenzusetzen. Verstärkung aus der Zukunft gibt es nicht. Waldrop findet ein simples und deshalb besonders aussagestarkes Bild für die Folgen: Immer wieder druckt er uns das stets aktualisierte "Armee-Formular 1" aus, das über die Dienststärke von Kompanie 147 Auskunft gibt: Binnen weniger Monate schmilzt die Soldatenschar zusammen, während Panik und Resignation um sich greifen.
Ein Mann schert aus
Während Spaulding und seine Truppe lautstark auftauchen und untergehen, macht der auf sich allein gestellte Madison Yazoo Leake eine Entdeckung: Diese Vergangenheit hat sich schon lange vor seinem Erscheinen verändert! Eine arabisch-europäische Allianz treibt weltweiten Handel, Dampfkraft und Elektrizität sind längst erfunden. Ob dafür womöglich eine weitere Zeitreise verantwortlich ist oder ob Leake nicht nur durch die Zeit, sondern auch in eine parallele Dimension gereist ist, lässt Waldrop offen; für das Geschehen ist die Frage unerheblich.
Auch dieser hoffnungsvolle Neubeginn endet tragisch: Nun sind es nicht die Engländer oder Spanier, die tödliche Viren nach Amerika bringen, sondern die Araber. Der Wandel zeichnete sich schon vor Leakes Eintreffen ab. Die friedliche Welt der Landwirtschaft treibenden Siedler ist durch eroberungslustige "Meshicas" und "Huasteken" aus Mittelamerika unter Druck geraten. Der hoffnungsfrohe Sonnenkult wird durch einen Todeskult abgelöst.
Leake, der zunächst einen angenehmen Ort gefunden zu haben schien, wird schnell in den Strudel dieser Veränderungen gerissen. Mit Gewalt stemmt er sich ihnen entgegen und wird doch mitgerissen. Ihm gelingt es nur, einer weiteren Invasion aus der Zukunft einen Riegel vorzuschieben. Danach wird Leake sein Leben in der Vergangenheit fortsetzen und ebenfalls im Strom der Zeit untergehen.
Nachträgliche Fragen ohne Antworten
Ein dritter Handlungsstrang erzählt von dem nachträglichen Versuch, die veränderte Geschichte in Einklang mit der Überlieferung zu bringen. Archäologen graben dort, wo Kompanie 147 einst buchstäblich vom Erdboden verschwand. Die Relikte widersprechen dem Forschungsstand, sie lassen sich beim besten Willen nicht in existierende Lücken einpassen. Waldrop schildert überzeugend die daraus resultierenden Probleme. Mit zunehmender Verzweiflung suchen die Forscher nach einem Fehler, einem Fälschung, einem dummen Streich. Schließlich müssen sie sich damit abfinden, dass Menschen aus der Zukunft an "ihrer" Gegenwart – dem Jahr 1929 – vorbei in die Vergangenheit gereist sind. Glauben wird ihnen dies trotz der Beweise niemand.
Damit verhalten sich die "modernen" Menschen so wie ihre Vorfahren. Die Anomalie der Funde von 1929 wird ebenso vom Zeitstrom eingeebnet wie Kompanie 147. Die Zeit ist Sieger. Das passende Schlusswort findet wieder Browne:
"Doch da wir der früheren Zivilisationen gedenken, die sie über diese Länger brachten, und längst vergangenes Unheil vergessen, bewahren wir dankbar ihre Gebeine und pinkeln nicht auf ihre Asche." (S. 144; das hat er wirklich so geschrieben!)
Die Melancholie der Ereignisse bricht Waldop immer wieder durch einen sanften, trockenen Humor. Überhaupt vermeidet er jeglichen Gefühlsdusel. Der Texttenor ist betont sachlich, der Ausdruck knapp. Historisierende Als-ob-Rekonstruktionen erspart der Autor uns. Die Ureinwohner leben in keiner schamanenschwangeren Mythenwelt, und sie drücken sich nicht blumig, sondern klipp & klar aus. So macht die Lektüre Freude, und sie endet, als Waldrop erzählt hat, was er uns erzählen wollte, statt sich vielhundertseitig zu wiederholen.
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