Doctor Sleep
- Heyne
- Erschienen: Januar 2013
- 11
Von Shining zu Steam – sonst keine besonderen Vorkommnisse
35 Jahre sind vergangen, seit Daniel "Danny" Torrance die Zerstörung des "Overlook"-Hotels überlebt hat. In einem abgelegenen Winkel des US-Staates Colorado hatte sein alkoholkranker Vater dort einen Hausmeisterposten angenommen. Jack Torrance war dem Wahnsinn verfallen und hatte versucht, seine Ehefrau und seinen Sohn zu töten.
Außerdem spukte es im "Overlook". Der mit einem zweiten Gesicht – dem Shining – begabte Danny begegnete immer wieder den Geistern von Hotelgästen, die ein grausiges Ende genommen hatten. Das Shining hat auch Dannys späteres Leben geprägt. Er wurde von Gespenstern heimgesucht, bis er begann, seine Gabe mit Alkohol zu betäuben. Wie sein Vater zum Säufer geworden, vagabundierte Danny durch die USA.
Ende der 1990er Jahre kam er in Frazier, einer kleinen Stadt in New Hampshire, endlich zur Ruhe. Torrance fand nicht nur Freunde, sondern auch zu den Anonymen Alkoholikern. Er ist seither trocken und arbeitet als Sterbehelfer in einem örtlichen Hospiz – eine Tätigkeit, bei der ihm sein Shining endlich hilfreich ist.
An anderer Stelle gerät die zwölfjährige Abra Stone ins Visier des "Wahren Knotens". Seine Mitglieder sind zu beinahe unsterblichen Kreaturen mutiert, die sich ihre Kräfte durch den Mord an übersinnlich begabten Mitmenschen erhalten, denen sie das "Shining" – von ihnen "Steam" genannt – absaugen. Zurück bleiben Leichen.
Abras außerordentlich hoher "Steam"-Gehalt lockt den "Knoten" wie Honig den Bären. Unter der Führung von Rose the Hat machen sich die Wesen an das Mädchen heran. Doch Abra erweist sich als zwar unerfahrene aber starke Gegnerin. Außerdem hat sie inzwischen Danny Torrance als Mitstreiter entdeckt, der sich in den Kampf mit dem "Knoten" einmischt ...
Der Fluch der Fortsetzung
Konstatieren wir zunächst dies: Doctor Sleep erzählt vom Kampf einer kleinen, isolierten, sehr unterschiedlich besetzten aber aufeinander angewiesenen Gruppe gegen mächtige, böse, rücksichtslose Finsterlinge. Solche Geschichten sind Stephen Kings Spezialität, weshalb er sie auch dieses Mal problemlos und unterhaltsam über ihre Distanz bringt
Auf der anderen Seite kommt vor allem dem regelmäßigen King-Leser dieser Plot bekannt vor. Verständlicherweise ist es schwierig für einen Schriftsteller, der seit vier Jahrzehnten fleißig publiziert, das Rad immer wieder neu zu erfinden. King bemüht sich um die Variation des (von ihm) Bekannten, doch selbst hier scheint ihm allmählich die Luft auszugehen. Er kam deshalb auf eine naheliegende Idee und deklarierte "Doctor Sleep" zur Fortsetzung seines frühen Werkes "The Shining".
Jedoch ist die 1977 erstmals erschienene Vorgeschichte für die Handlung des neuen Buches belanglos. King bemüht sich, lose Stränge aufzugreifen, um sie mit der Fortsetzung zu verknüpfen. Die Parallelen wirken bemüht, die Geschichte vom "Overlook" hatte ihr logisches Ende gefunden. Besonders das große Finale ausgerechnet dort, wo einmal das Hotel stand, ist absolut überflüssig. Es offenbart sich als Mittel zum Zweck, der da lautet, die Leser von The Shining auf die Seite von Doctor Sleep zu ziehen.
The Shining & Doctor Sleep = Äpfel & Birnen
Es wird nicht gelingen. Doctor Sleep würde allzu problemfrei ohne Danny Torrance funktionieren. King will (oder kann) keine gänzlich neue Handlungswelt schaffen. Deshalb kehrt er zu Shining zurück. Das ist gefährlich, wie King in einem Nachwort selbst zugibt: Über die Jahrzehnte ist Shining zum Klassiker der Phantastik aufgestiegen. Wer ihn liest, ist zu Recht beeindruckt von den Schrecken, die der Verfasser brillant zu entfesseln wusste. Dennoch ist der Roman gleichzeitig ein Zeugnis seiner Entstehungszeit. Vermutlich würde er heute nicht mehr die Wirkung von einst erzielen.
Der Shining-Zug ist abgefahren, und King versucht vergeblich, den Anschluss zu bekommen. Der "Wahre Knoten" kann es an Bedrohlichkeit weder mit dem äußeren Nachtmahren – den Gespenstern des "Overlook"-Hotels – noch mit dem inneren Horror des allmählich in den Irrsinn abgleitenden Jack Torrance aufnehmen. Das Hotel selbst ist als Schauplatz gleichermaßen unübertroffen. "Doctor Sleep" fehlt ein solcher Ort des Schreckens. Einst wahrlich finstere Geister wie Mrs. Massey oder Horace Derwent spuken ohne ihr ´Heim' als Zitate ihrer selbst durch das Geschehen. (Als trauriges Tüpfelchen auf diesem "I" winkt schließlich sogar Jack Torrance selbst aus dem Geisterreich.)
Eine recht simple Geschichte wird durch Abschweifungen und Exkurse in die Länge gezogen. Danny Torrances Weg zurück in ein nüchternes Leben zu schildern mag King, der selbst Alkoholiker ist, ein Herzensanliegen gewesen sein. Für den Fortschritt der Handlung sind diese Passagen in ihrer Ausführlichkeit ohne Belang. Was Torrance abrutschen ließ, hat King im Verlauf der ersten 100 Seiten deutlich gemacht: Hier füllt er die Lücken zwischen The Shining und Doctor Sleep mit Rückblenden auf Dannys Leben nach der "Overlook"-Tragödie.
Eine Irrfahrt, die ist lustig
Natürlich ist Stephen King viel zu sehr Routinier, um ein wirklich schlechtes = langweiliges Garn zu spinnen. Ohne den "Shining"-Faktor, das daraus resultierende Werbegeschrei und die Enttäuschung könnte man die Geschichte vorurteilsfrei genießen. Einmal mehr ist King viel zu schlau, um die Geschichte nicht einige überraschende Wendungen nehmen zu lassen. Beispielsweise hätte der Leser darauf gewettet, dass der große Finalkampf über der (scheinbar) hilflos ihren Peinigern ausgelieferten Abra ausbricht. Es kommt völlig anders – gut so, und es wird noch besser: Für das Gelingen einer Täuschung der bisher weit überlegenen Gegner weiß King ebenfalls eine überzeugende Begründung zu liefern. Das Böse ist stark aber nicht zwangsläufig intelligent, und es hat seine Achillesferse: Man muss sie finden und ausnutzen, dann kann man sogar dem Teufel ein Bein stellen.
Dabei unbedingt erforderlich ist Zusammenhalt. King kommt auf den originellen Einfall, Freund und Feind in diesem Punkt deckungsgleich zu zeigen. Solange der "Wahre Knoten" seinem Namen gerecht wird und die "Steam"-Sauger füreinander einstehen, stellt er eine kaum bezwingbare Gefahr dar. Erst als der "Knoten" zerbricht, haben Danny, Abra und ihre Bundesgenossen eine Chance. Sie wahren trotz diverser Uneinigkeiten die Solidarität, die ihre Kräfte nicht verdoppelt, sondern vervielfacht.
Ebenfalls typisch ist Kings Talent, eigentlich Unmögliches in so klare Worte zu fassen, dass es "real" klingt. Danny und Abra können ihre Persönlichkeiten wechseln oder sich ein Hirn "teilen". King erspart sich (und uns) generell naturwissenschaftliche (Pseudo-) Erklärungen für das "Steam"-Phänomen. Er schildert, den Vorgang, findet dafür begreifliche Bilder und lässt es in die Handlung einfließen.
Andere Namen aber ähnliche Figuren
Stephen Kings Welt ist die der US-amerikanischen Mittel- und Unterschicht, der ´einfache Mann' und sein Leben abseits des "American Dream" sein Milieu. Er bevölkert es mit Durchschnittsmenschen und stellt dabei die Glaubwürdigkeit über die in der US-Populärkultur weiterhin gern beschworenen "family values", ohne diese indes zu negieren. Die Familie steht zwar im Mittelpunkt, doch der Familienalltag ist kein paradiesischer Zustand. Auch bei den Stones liegt einiges im Argen.
King schafft es, uns seine Figuren gerade aufgrund von Schwächen, die wir alle kennen, ans Herz zu legen. Dies funktioniert weiterhin, obwohl Doctor Sleep geradezu ein "best of" bekannter King-Figuren ist. Da haben wir den von unbewältigten Problemen und Erinnerungen gepiesackten Anti-Helden, seine ungleichen aber hilfsbereiten Kumpels sowie ein durch die hässlichen Seiten der Realität altklug gewordenes Kind. Bis sie sich gefunden und zusammengerauft haben, gibt es viel zu erzählen, zu begründen und aufzuarbeiten. Das füllt Seiten und wiederholt sich, was der Leser jedoch nicht annähernd so schrecklich weil banal finden dürfte wie die kurz vor dem Großen Finale enthüllten Gemeinsamkeiten der Familien Torrance und Stone, die abermals zwei kaum kompatible Geschichten zusammenschweißen sollen.
Das "Böse" ist bei Stephen King in der Regel nur dann wirklich schwarz, wenn es rein menschlicher Herkunft ist. In dieser Hinsicht ist der Autor Pessimist – oder Realist: Der Mensch benötigt keine Monster. Er schafft sich die Hölle problemlos selbst. Das "echte" Ungeheuer ist deshalb womöglich keines und nicht von Bosheit, sondern von elementaren und "unschuldigen" Trieben besessen. Die Mitglieder des "Knotens" foltern und töten gnadenlos, doch sie tun es, um zu überleben. Aus dem Schaf Abra lässt King den Wolf zum Vorschein kommen, der die Bedrohung beendet, indem er sie auslöscht – und es genießt. Auf der anderen Seite offenbaren die Mitglieder des "Knotens" menschlich gebliebene Seiten: Immer wieder arbeitet King die Ambivalenz einer Realität heraus, in der sich "Gut" und "Böse" mischen.
Das Multiversum nach King
Selbstverständlich bettet King Doctor Sleep auf vielfältige Weise in sein persönliches Multiversum ein. Zahllose Anmerkungen erinnern an frühere Werke und erwähnen bekannte (Neben-) Figuren. Für den King-Nitpicker ist es die pure Freude, solche Verweise zu finden, zu entschlüsseln und aufzulisten. Der Rezensent freut sich, weil er sich diese Arbeit deshalb ersparen und sich mit dem Hinweis auf einschlägige King-Websites (s. u.) begnügen kann.
Solche Spielereien ändern objektiv nichts daran, dass Doctor Sleep mehr Marketing als Meisterwerk ist. Sein Publikum langweilt sich nicht, aber es kann die angemerkten Schwächen beim besten Willen nicht leugnen. Glücklicherweise werden rasch neue Romane folgen. King wird diese Scharte wie schon oft auswetzen sowie einen Titel vergessen lassen, der offensichtlich vor allem mysteriös klingen soll. Doctor Sleep ist für das Geschehen jedenfalls ohne Belang.
(Der Übersetzer sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Genitiv zwar auf dem Rückzug ist, die deutsche Grammatik aber noch nicht offiziell verlassen hat. Also weg mit "wegen dem jungen Danny" und zurück zu "wegen des jungen Dannys"!)
Stephen King, Heyne
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