Dunkle Halunken
- Doubleday
- Erschienen: Januar 2013
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Ein Oliver Twist für unsere Zeit, ergreifend, spannend und kurzweilig
Was verbindet man als Leser nicht alles mit Queen Victoria. Nur zu gerne greifen Autoren aller Herren Länder die Ära auf, und situierten ihre Handlung dort. Gerade Verfasser phantastischer Stoffe nutzen die Vorlagen des victorianischen Zeitalters gerne und ausgiebig. Steampunk-Titel aller Couleur spielen in der Zeit und sind in London angesiedelt. Allerdings lassen die entsprechenden Autoren dabei die negativen Begleitumstände des Lebens zur Zeit der berühmten Königin meist weitgehend außen vor. Statt die Armut, die Seuchen, die Ausbeutung der Arbeiter und die Luftverschmutzung durch die vielen Kohleöfen der Stadt in ihre Texte mit einfließen zu lassen, berichten sie uns von begüterten Adeligen, die ihre Tanzkarten füllen, sich ihre Fracks und Tornüren anlegen lassen und vom Personal umsorgt werden.
Nun ist auch Terry Pratchett ein Autor, den der Leser als Verfasser phantastischer Stoffe kennt. Seine Scheibenwelt-Romane sind legendär, bieten munteres, zwerchfell-erschütterndes Lesevergnügen der tiefschürfenderen Art. Um so erstaunlicher ist, dass er mit Dunkle Halunken einen Roman vorlegt, der keine wirklichen phantastischen Elemente aufweist, der sich inhaltlich eher an Dickens´ Oliver Twist orientiert, als dass er Zauberer oder Gestaltwandler – von Sam Mum & Co. gar nicht zu sprechen – eine Bühne bieten würde.
Dass der Roman, auf dessen Seiten der Leser auf bekannte historische Persönlichkeiten trifft, trotzdem im All-Age Verlagsableger IVI statt direkt bei Piper erscheint, ist daher bemerkenswert. Sicherlich richtet sich das Buch an Leser aller Altersschichten, wäre jedoch meines Erachtens marketing-technisch bei Piper besser aufgehoben gewesen. Für die Übersetzung hat man dann mit Andreas Brandhorst wieder den Fachmann rekrutiert, der die meisten der Scheibenwelt-Bände erstmals ins Deutsche übertrug..
Inhaltlich bietet uns Terry eine ergreifende Geschichte an. Wir lernen den junge Dodger kennen. Ein Waisenjunge, der sich seinen Lebensunterhalt in den noch von den Römern installierten Abwasserkanälen der Stadt verdient. Man sollte nicht glauben, was Menschen alles verlieren, wegwerfen oder anderweitig seinen Weg in die Katakomben unterhalb Londons findet. Eines Nacht hört Dodger auf den Weg nach Hause Hilferufe. Zwei Ganoven verprügeln eine junge Frau – etwas, was der Gassenjunge nicht einfach hinnehmen kann. Kurz entschlossen rettet er die junge Dame, nicht ahnend, dass er damit einen politischen Zwischenfall auslöst.
Simplicity, wie sich die Gerettete nennt, wagt es nicht, zu offenbaren, wer ihren Tod will, doch Dodgers Neugier – und Zuneigung zu der schönen Unbekannten – ist geweckt und so macht sich unser aufgeweckter Gauner daran, herauszufinden, was hinter dem Verbrechen, dem weitere folgen, steckt. Seine Untersuchungen führen ihn in Huren- und Herrenhäuser, er wird dank der Unterstützung Charles Dickens zum Helden von London als er einen Serienkiller entwaffnet, steigt in Botschaften ein und ahnt doch, dass nur das Ableben Simplicitys die Jagd auf diese beenden kann ...
Terry zeigt, dass er außerhalb der Scheibenwelt tiefsinnig zu unterhalten weiß.
Was ist das also nun für ein Roman, den der von Alzheimer geplagte Autor als Spätwerk vorlegt? Abenteuerlich geht es zu, Humor ist auf jeder Seite zu spüren, gleichzeitig aber hat Pratchett unauffällig, wie es seine Art ist, auch nachdenkliche Gedanken mit einfließen lassen. Ohne die gesellschaftlichen Zustände zu beschönigen mit dem Blick für Missstände, berichtet er uns von einer Zeit, die so gar nicht malerisch war. Ausbeutung, Umweltverschmutzung und das dreckige Geschäft der Politik werden thematisiert, ohne dass Pratchett dabei die Unterhaltung seiner Leser aus den Augen verliert. Diese verklausulierte Kritik an Zuständen, die sich bis in die heutige Zeit nicht wirklich geändert haben, verleiht dem Buch dann sein ernstes Gerüst, das den Leser zum Nachdenken anregt.
In diese Kulisse setzt er seine faszinierenden Gestalten. Angefangen von Dodger, einem aufrechten Halunken, den jeder kennt, der sich allen Widerständen zum Trotz halbwegs legal durchschlägt, dabei seinen inneren moralischen Radar behalten hat. Über dessen jüdischen Mentor bis hin zu Charles Dickens faszinieren die Personen durch ihre vielschichtige Zeichnung. Eine Liebesgeschichte hat er mit hineingepackt, dazu Elemente aus Agententhriller- und Krimiromanen, so dass den Leser ein sehr abwechslungsreicher Plot erwartet.
Das liest sich ein wenig wie ein moderner Oliver Twist, ergreifend, intensiv, spannend und kurzweilig, zeigt, dass Terry trotz oder gerade wegen seiner Krankheit sich noch genauer überlegt, was und wie er schreibt.
Carsten Kuhr im Oktober 2013
Terry Pratchett, Doubleday
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