Subtiles Grauen & brutaler Horror
Sammlung zwölf klassischer sowie eher trivialer Geschichten:
- Allison V. Harding: Das Haus hinter Mitternacht (The House Beyond Midnight, 1947), S. 7-20: Dass John und Eve ihren Autounfall überlebten, gilt im Jenseits als Irrtum, der schnell und tödlich korrigiert werden soll.
- Eric Frank Russell: Der Rhythmus der Ratten (The Rhythm of the Rats, 1950), S. 21-33: Der böse Rattenfänger ist weder eine Märchenfigur noch beschränkt er seine Aktivitäten auf das deutsche Städtchen Hameln.
- Howard Philips Lovecraft: Träume im Hexenhaus (Dreams in the Witch-House, 1933), S. 34-66: Weil Magie und Mathematik eine wirkungsvolle Verbindung eingehen, können Menschen, Hexen und Monster aus fernen, schrecklichen Welten einander begegnen.
- Hugh Walpole: Mrs. Lunt (Mrs. Lunt, 1926), S. 67-78: Mr. Lunt weiß gut, wieso seine Gattin versprach, ihn am Jahrestag ihres Todes zu besuchen, weshalb er in dieser Nacht keineswegs allein sein möchte.
- Frank Belknap Long: Die zwei Gesichter (Two Face, 1950), S. 79-93: Die Bewohner eines fremden Planeten haben einen speziellen Weg gefunden, ihre Aggressionen zu kanalisieren.
- Merle Prout: Das Haus des Wurms (The House of the Worm, 1933), S. 94-110: Als eine obskure Sekte allzu inbrünstig ihren Götzen anbetet, wird dieser grässliche Realität.
- Marie Belloc Lowndes: Die Anstandsdame (The Duenna, 1926), S. 111-120: Im Liebesnest der beiden Ehebrecher ist der Geist der früheren Bewohnerin deutlich spür- und sichtbar.
- August Derleth: Potts Triumph (Pott´s Triumph, 1950), S. 121-128: Grimmig entschlossen lässt sich der Innenarchitekt nicht an der Neugestaltung eines Spukzimmers hindern, bis den dort heimischen Geistern der Geduldsfaden reißt.
- Thorp McClusky: Das Grauen auf dem Friedhof (The Graveyard Horror, 1941), S. 129-148: Ein Dämon schlüpft in den Körper eines Selbstmörders und sucht die Einwohner seines Dorfes heim.
- Helen Weinbaum: Das Tal der Untoten (The Valley of the Undead, 1940), S. 149-162: Zwei Liebende kämpfen gegen einen uralten Fluch und seine Verursacher.
- Mildred Johnson: Der Spiegel (The Mirror, 1950), S. 163-172: Der Erbonkel wurde zu Lebzeiten hart bedrängt, aber er wusste, wie er im Sarg zuletzt lachen und den Neffen dies wissen lassen konnte.
- Algernon Blackwood: Chemisch (The Chemical, 1926), S. 173-190: Seinen Mitmieter kann der junge Gelehrte instinktiv nicht leiden, und in einer schauerlichen Nacht erfährt er, wie richtig er damit liegt.
Nicht gereift aber trotzdem nicht abgestanden
279 Ausgaben zählte das US-amerikanische Magazin "Weird Tales" in seiner ersten und "klassischen" Inkarnation; sie währte von 1923 bis 1954. In diesen drei Jahrzehnten entfesselten Autoren in dreistelliger Zahl das Grauen. Manche gaben nur Gastspiele, weil den Leser ihre Geschichten nicht gefielen, andere wurden von Anfängern zu Profis, die buchstäblich schreibend das schwierige Handwerk der unterhaltenden Literatur erlernten. Aus geborenen wurden nicht selten großartige Erzähler, die über die von den Lesern heißgeliebten und von der "offiziellen" Kritik kaltverachteten "Pulps" hinauswuchsen, ihren Ruf festigten und schließlich "richtige" Bücher schrieben.
Die Magazine, in denen sie ihr Lehrgeld verdient hatten, gingen in den 1950er Jahren unter. Doch obwohl die Mehrzahl der auf billiges, stark holzhaltiges Papier gedruckten Hefte schnöde als Papiermüll (oder auf einem der von Kirchen- oder Jugendverbänden zum geistigen Wohl ihrer gern vereinnahmten Schützlinge angefachten Scheiterhaufen) endeten, gab es Sammler, die ihren wahren, (zunächst) nicht finanziellen, sondern ideellen Wert erkannten. Ihnen ist es zu verdanken, dass viele großartige Geschichten nicht verlorengingen, sondern wiedergefunden und als jene Schätze geborgen werden konnten, die sie tatsächlich darstellen.
Zu denen, die diesen "Pulp"-Storys gesammelt zwischen Buchrücken neu herausgaben, gehörte der in Deutschland geborene und vor den Nazis in die USA geflüchtete Kurt Singer. Er konnte aus dem Vollen schöpfen und füllte viele Bände mit alten Geschichten nicht nur aus "Weird Tales". Singer ordnete sie thematisch und schrieb in Vorwörtern über ihre Stellung in der Phantastik. Um das Bild abzurunden, ergänzte er die Magazin-Storys mit klassischen Geister- und Gruselgeschichten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert.
"Etwas Altes ..."
Beginnen wir mit den Klassikern. Howard Philips Lovecraft (1890-1937) gehört längst zu den anerkannten Großmeistern der phantastischen Literatur. Er wird meist für die Schaffung des "Cthulhu"-Mythos gerühmt, nach dem die Erdhistorie nur Episode einer Kosmologie und das Universum ein Spielfeld bzw. Kriegsschauplatz miteinander konkurrierender Wesenheiten ist. Unabhängig von Raum und Zeit gehen diese ´Götter´ dem menschlichen Geist nie wirklich begreiflichen Aktivitäten nach. "Träume im Hexenhaus" greift zwar gewisse Elemente dieser Weltsicht auf, gehört aber nicht direkt zum Mythos. Nichtsdestotrotz gilt diese Erzählung als eine der reifsten Werke des Verfassers. Der Leser schließt sich diesem Urteil rasch an, denn die Meisterschaft, mit der Lovecraft "historische" Hexerei in seinen ´naturwissenschaftlichen´ Horror integriert, wird höchstens von der Wucht übertroffen, mit der er echtes Grauen entfesselt.
Prinzipiell kann der bereits von Lovecraft gerühmte Algernon Blackwood (1869-1951) an dieses Niveau anknüpfen. Der Kenner seines Werkes merkt dennoch, dass "Chemisch" die x-te Variation eines Themas ist, dessen sich Blackwood immer wieder angenommen hat: Wie definiert und äußert sich die Angst vor dem Übernatürlichen? Sicherlich am eindrucksvollsten gelangen ihm Antworten in Geschichten wie "The Listener" (1907; "Der Horcher"), "The Occupant of the Room" (1909; "Kein Zimmer mehr frei") oder "With Intent to Steal" (1906, "Gestohlenes Leben"). Mit ihnen kann "Chemisch" nicht mithalten. Abermals gelingt es Blackwood freilich, das flüchtige Gefühl der elementaren Furcht vor dem Unbekannten in Worte zu fassen. Wenn sich unser Held dem Schrecken endlich stellen muss, ist der Leser nolens/volens direkt an seiner Seite!
Die Ur-Angst vor dem Jenseits gründet sich zu einem guten Teil auf der Annahme, dass im Leben unbewältigte Aufgaben nach dem Tod wieder aufgegriffen werden. Vor allem jene, die womöglich für diesen Tod verantwortlich sind, muss diese Vorstellung Sorge bereiten, ist doch damit zu rechnen, dass ihre Opfer sich rächen wollen. Hugh Walpole (1884-1941) bringt es ebenso dramatisch wie schwarzhumorig auf den Punkt: Die Rache aus dem Jenseits ist ein Schicksal, dem man sich trotz aller Tricks schwer oder gar nicht entziehen kann.
Manchmal genügt die bloße Last der Schuld. Marie Belloc Lowndes (1868-1947) lässt den mehrfach angesprochenen Geist nie wirklich erscheinen. Er bleibt die Manifestation oder Projektion der Erinnerung an eine Vergangenheit, die vor allem deshalb präsent bleibt, weil sich die Beteiligten ein Vergessen bzw. Verzeihen nicht gestatten.
"Etwas Geborgtes ..."
Eric Frank Russell (1905-1978) gehört zu den "Pulp"-Autoren, die auf dem schmalen Grat zwischen Phantastik und Grusel-Trash zu balancieren verstanden. Seine Interpretation der Legende vom Rattenfänger erfasst das Wesen dieser Kreatur, die nicht wirklich böse ist, sondern unmenschlich fremd ist. Russells Erzählung gewinnt durch ihre Kulisse an Eindringlichkeit: Sie spielt in einem seltsamen Land, das zwischen Realität und Traum zu schweben scheint. In dieser Umgebung ist alles möglich aber nichts auf befriedigende Weise erklärbar, was Angst und Unruhe gleichermaßen schürt. Ähnliches versucht Frank Belknap Long (1901-1994) im Rahmen einer Science-Fiction-Story und auf einem fremden Planeten. Das Unerklärliche ist hier quasi daheim. Der ihm innewohnende Schrecken wird durch die Ignoranz der irdischen Besucher geweckt, die seine Existenz zu spät begreifen.
Merle [eigentlich Mearle] Prout gehört nicht nur zu Lovecrafts Zeitgenossen, sondern ist auch einer jener Autoren, die sich von ihm inspirieren ließen. "Das Haus des Wurms" ist die etwas grobe aber in der Schaffung einer unguten, unheimlichen Atmosphäre gelungene Version jener Heimsuchungen, die Lovecraft durch seine bösen "Götter" aus dem All über die Menschen kommen ließ. Weniger gelungen ist die Einbettung in eine zeit- bzw. pulptypische Action-Handlung, in der zwei unerschrockene Helden dem Grauen mit Benzin, Sprengstoff und Bulldozer zu Leibe rücken.
Helen Weinbaum (1906-1982), die ebenfalls schriftstellerisch tätige Schwester des früh und tragisch gestorbenen SF-Autors Stanley G. Weinbaum (1902-1935), beschwört das Grauen im Rahmen einer tragischen Liebesgeschichte herauf. Sie bringt keltische Mythen zum Einsatz, die effektvoll trivialisiert werden, kann aber insgesamt nicht verhindern, dass die heraufbeschworene Liebe dem Zahn der Zeit deutlich schlechter widerstehen konnte als der Horror.
"Etwas Blutrotes ..."
Allison V. Harding [d. i. Jean Milligan, 1919-?] steht für reinen, unverfälschten Pulp-Horror. Ihre Story lässt die Schrecken des Totenreiches schon früh und unverhüllt auftreten. Das Grauen soll durch die präzise Schilderung von Tod und Verwesung entstehen, die normalerweise tief unter der Friedhofserde verborgen bleiben. Hinzu kommt ein "überraschender" Finaltwist, der das Geschehene noch einmal scharf konturiert zusammenfasst. Auf der Soll-Seite steht eine Figurenzeichnung, die der Protagonistin das Klischee des primär ängstlichen Weibchens aufprägt.
Gänzlich ohne Raffinesse präsentiert Thorp McClusky (1906-1975) sein Garn. Vampire der grobschlächtigen Art bedrängen geistig nicht gerade regsame Zeitgenossen, bis irgendwann irgendwer begreift, was in der Nacht umgeht, und ihm schwer bewaffnet gegenübertritt. Auch hier stehen die Effekte im Vordergrund, die sich in einer Story, die den Titel "Das Grauen auf dem Friedhof" trägt, erwartungsgemäß um die hässlichen Begleiterscheinungen des Menschentodes drehen.
Dass der Tod seine makabren i. S. von witzigen Seiten haben kann, verstehen August Derleth (1909-1971) und Mildred Johnson deutlich zu machen. Auch Geister sind (oder waren) Menschen, denen profaner Ärger oder Schadenfreude nicht fremd sein müssen. Da sie dank jenseitiger Kräfte diesen Gefühlen auf unerwartete Weise Luft machen können, kommt es zu Geschehnissen, die aufgrund ihrer grotesken Drastik auch zum Lachen (oder heimlichem, politisch korrektem Grinsen hinter verschlossener Tür) reizen.
Michael Drewniok im August 2013
Kurt Singer, Heyne
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