Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 2013
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Ein Dickschädel geht (historisch) alternative Wege
Wir schreiben das Jahr 1861 in einem ´alternativen´ London: Queen Viktoria ist schon vor vielen Jahren durch ein Attentat gestorben, dampfbetriebene Fahrzeuge beginnen die Pferdefuhrwerke zu verdrängen, und dank enormer Fortschritte in den Naturwissenschaften ist es u. a. möglich, genetisch ´aufgerüstete´ Haustiere als Diener und Boten zu beschäftigen. Das britische Empire ist bereits eine Weltmacht, die sich stetig weiter über den Globus ausdehnt. Forschungsreisende und Soldaten erforschen und besetzen ferne Länder auf exotischen Kontinenten. Zu den großen Entdeckern gehört Sir Richard Francis Burton, der allerdings in die Kritik geraten ist, nachdem er sich einen unwürdigen Streit mit seinem ehemaligen Freund John Speke um die Entdeckung der Nilquellen lieferte und dieser sich - offenbar in die Enge getrieben - eine Kugel in den Kopf geschossen hat.
Nichtsdestotrotz bietet die Regierung Burton einen Posten an. Als Agent für besondere Fälle greift er dort ein, wo Polizei und Scotland Yard überfordert sind. Aktuell geht es um das Auftreten von Werwölfen, die in den Slums von London ihr Unwesen treiben. Ebenso bedenklich ist das Auftreten einer bizarren Gestalt, die der Volksmund "Spring Heeled Jack" getauft hat. Nachdem er sich viele Jahre nicht mehr gezeigt hat, ist Jack wieder aktiv. Auch Burton macht bald seine Bekanntschaft, wird von ihm bedroht und zur Aufgabe seiner Pläne aufgefordert, die Burton selbst freilich unbekannt sind: Jack spricht offensichtlich mit einem anderen, in der Zeit fortgeschrittenen Burton.
Unterstützt von seinem hektischen Assistenten, dem Dichter Algernon Swinburne, setzt Burton seine Ermittlungen fort. Er kommt nicht nur einem bizarr fehlgeschlagenen Experiment auf die Spur, das 300 Jahre in der Zukunft begann, sondern stellt auch fest, dass sich Verschwörer gegen das Empire zusammenrotten, denen Spring Heeled Jack unwissend in die Hände (und Klauen) arbeitet. Zu unguter Letzt muss Burton über nichts Geringeres als den Verlauf der Weltgeschichte entscheiden ...
Große Ursachen, gewaltige Wirkungen
Schon vor der Erfindung der Science Fiction wurde mancher kluger Kopf über der Frage zerbrochen, was wäre, wenn ..., wobei die drei Pünktchen ein Ereignis der Weltgeschichte ersetzten, das aus irgendeinem Grund nicht stattgefunden oder einen gänzlich unerwarteten Lauf genommen hatte. Jede Ära hatte diesbezüglich ihre Favoriten, und alternative Historien schossen mal fantasievoll, mal sachlich ins Kraut.
Mark Hodder macht den Knackpunkt seiner Version der (englischen) Geschichte lose aber symbolträchtig am Tod von Queen Viktoria fest. Realiter regierte sie beinahe 64 Jahre über ein Land, das in dieser Zeit zum globalen, über ein Fünftel der Erde herrschenden Empire heranwuchs. Hodder lässt Viktoria wenige Jahre nach der Krönung sterben. An ihrer Stelle sitzt im Jahr der Handlung 1861 Witwer Albert auf dem englischen Thron.
Das viktorianische Zeitalter fällt also aus. Weil Technik und Naturwissenschaften nicht wie in der Realität durch die Kirche eingeschränkt werden, haben sie bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Hodder schwelgt in einer für den "Steampunk" typischen, weil altertümlichen Lowtech, die nicht von moderneren Errungenschaften abgelöst, sondern stetig fortentwickelt wurde. Folgerichtig wird der Motor des Fortschritts durch Dampf angetrieben, der erstaunliche Apparate antreibt. Hinzu kommen frühe Durchbrüche in einer noch nicht wirklich verstandenen aber bereits gemeisterten Genetik. Über die Schöpfung ´intelligenter´ Haustiere wie der elektrostatisch aufgeladenen "Kehrkatze" oder dem "Botensittich" ist man schon hinaus; der Mensch selbst kann sich ´verbessern´ lassen.
Der Mensch hinkt hinterher
Mit dem stürmischen Fortschritt konnte der Verstand nur bedingt Schritt halten. Politisch, wirtschaftlich und sozial ist England der Feudalzeit noch immer näher als der Moderne. Oben herrscht unangefochten der Adel, die konservative Mitte dominieren Kaufleute, Händler und Fabrikanten, und alle lasten sie über einer in Sachen Aufstieg weitgehend chancenlosen Unterschicht, deren Angehörige entweder als Arbeitstiere oder als Last für den ehrlichen Mann behandelt werden.
Die inneren Spannungen werden durch die Spaltung der Gesellschaft in "Technokraten" und "Libertins" verschärft. Die einen sehen das Heil in der weiteren Forcierung von Wissenschaft und Technik, die anderen drängen auf das Primat von Kunst und Philosophie und fordern eine geistige Freiheit, welche der herrschenden Klasse nicht grundlos gefährlich erscheint, stellt sie doch ihre Macht- und Moralansprüche in Frage.
Mark Hodder greift zur Schilderung einer turbulenten Vergangenheit einfallsstark auf die Realität zurück. Er deutet Fakten um und verknüpft sie neu, bis eine alternative Historie entsteht, die gleichermaßen vertraut und unterhaltsam fremd erscheint. Vor dem farbenfrohen Hintergrund verblasst glücklicherweise die Erkenntnis, dass der Plot sich in seinem Rahmen manchmal verliert: "Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack" ist eine recht simple, an Wiederholungen und Abschweifungen reiche Geschichte, die zugunsten mancher bizarren Episode ausgesetzt wird und erst in der zweiten Hälfte Fahrt aufnimmt.
Phantom mit Sprungfedern
Dann allerdings entwickelt die Handlung einen Sog, der den Leser nicht mehr freigibt. Hodder spinnt nicht nur ein spannendes Garn, sondern er legt auch das Fundament für eine ganze Serie weiterer fantastischer Abenteuer. Die Begründung für den alternativen Zeitstrang, dem diese entspringen werden, kleidet der Autor geschickt in einen Plot, der auf seine kuriose Weise funktioniert, solange man ihn nicht allzu nüchtern bzw. logisch hinterfragt. Vor allem Wahnsinn ist kein raffiniertes Spannungselement. Der Zeit und dem Schauplatz ist er freilich angemessen, denn in der viktorianischen Literatur brannten vor allem den Bösewichten gern die Sicherungen durch: Auf diese Weise konnten sie begründet ihrem schändlichen, unwürdigen (und verwerflich unterhaltsamen) Tun nachgehen.
Wer "Spring Heeled Jack" war oder ob es ihn überhaupt jemals gegeben hat, ist bis heute nicht geklärt. Womöglich hat ein gelangweilter englischer Adelsmann - den Hodder als eine zentrale Figur aufgreift - in Verkleidung seine groben ´Späße´ mit dem schockierten plebs getrieben, vielleicht ist Jack nur ein urbaner Mythos wie die giftige südamerikanische Spinne, die in jeder tausendsten Bananenstaude lauert. Mark Hodder hat jedenfalls gründlich recherchiert und quasi jede historische ´belegte´ Sichtung von Spring Heeled Jack für seine Geschichte adaptiert.
Die Herausforderung wusste Hodder selbst zu steigern, indem er Jack von der Chronologie der Ereignisse befreit. Anfangs stürzt dies den Leser in Verwirrung, da Jack im Wahn zu plappern scheint. Erst nach und nach enthüllt sich Jacks eigene Geschichte. Plötzlich sind es Burton & Co., die durch einen gestörten Zeitablauf intellektuell überfordert werden.
Held mit Kanten
Mit Richard Francis Burton (1821-1890) findet Hodder die perfekte Hauptfigur. Der ehemalige Weltenbummler und Forscherheld ist reisemüde geworden und leidet auch gesundheitlich unter den Nachwirkungen einer rauen Lebensführung. Aus Burton, dem Entdecker, wird Burton, der Geheimagent. Im Laufe seiner neuen Tätigkeit muss Burton freilich lernen, dass London, seine Heimatstadt, es mit den Schrecken Afrikas mühelos aufnehmen kann.
Vor allem in den Slums ist es Burton nützlich, sich seiner Reiseerfahrungen zu bedienen. Hodder muss nicht übertreiben, wenn er eine Hölle entfesselt, die Menschen ohne den Schutz eines sozialen Netzes erbarmungslos verschluckt. Ausbeutung, Krankheit, Schmutz, Unwissen, Brutalität ... - Hodder weiß die Kette der zum Himmel schreienden zeitgenössischen Ungerechtigkeiten durch gut gewählte Beispiele zu verdeutlichen. (Sicherlich im Gedächtnis haften bleiben wird die Beschreibung, wie man einen engen Schornstein mit Hilfe einer lebenden Gans reinigt.) London, die Stadt, weist 1861 mindestens so viele ´weiße Flecken´ und menschliche Wildnis auf wie die Weltkarte.
Um Burton, den eisenharten und seinem Job durchaus gewachsenen Helden, ein wenig menschlicher wirken zu lassen, stellt ihm Hodder einige weniger schlagkräftige Genossen an die Seite. Vor allem Algernon Charles Swinburne (1837-1909) fällt aus dem Rahmen. Er repräsentiert die ´dekadente´ Seite der viktorianischen Ära, deren angebliche Sittenstrenge vor allem durch bigotte Heuchelei und Verdrängung möglich wurde. Swinburne wird bei Hodder zum unkonventionellen Streitgenossen, der gerade deshalb hilfreich ist, weil sein sprunghaft arbeitendes Hirn logikferne und deshalb den Gegner überraschende Ideen ausbrütet.
Das Bizarre realistisch auf die Spitze treiben
Spring Heeled Jack ist keineswegs der einzige Schurke. Zwar lebt Queen Viktoria nicht mehr, doch die Schurken halten sich trotzdem an den viktorianischen Kodex: Sie sind nicht nur böse, sondern es spiegelt sich auch in ihrem Aussehen und Auftreten wider. Ein besonderes Vergnügen ist es, ´positiv´ besetzte Gestalten der Geschichte wie Charles Darwin, die Medizin-Pionierin Florence Nightingale (1820-1910) oder den Naturforscher Francis Galton (1822-1911) als genialische Irre zu erleben, die ihre Theorien schauerlich in die Tat umsetzen.
Das Finale ist spektakulär und deutet die Fortsetzung bereits an, denn nicht alle Lumpen konnten erwischt werden. Die beiden Zeitlinien bleiben voneinander getrennt und werden vermutlich weiter auseinanderdriften. Auf die daraus resultierenden Entwicklungen darf man als Leser gespannt sein - und ist es auch.
Die Seiten der schönen deutschen Paperback-Ausgabe mit Klappenbroschur sind zwar vergleichsweise spärlich und unter großzügigem Einsatz von Leerflächen bedruckt, doch dies wird mindestens durch die gelungene Übersetzung dieser gleichermaßen farbenfroh wie düster gezeichneten Geschichte ausgeglichen.
(Dr. Michael Drewniok, Februar 2013)
Mark Hodder, Bastei-Lübbe
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