Der Wolkenatlas

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 2006
  • 1
Der Wolkenatlas
Der Wolkenatlas
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Almut Oetjen
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonNov 2012

Russische Seelenwanderpuppe

"Der Wolkenatlas" ist die dritte Buchveröffentlichung des Briten David Mitchell. Der Roman erhielt den British Book Award 2004, den Book of the Year Award von Richard & Judy. Er war nominiert für den Booker Prize, den Nebula Award und den Arthur C. Clarke Award. Kürzlich wurde er von Tom Tykwer verfilmt. "Der Wolkenatlas" besteht aus sechs Geschichten:

Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing (S.7-57 + 619-668)

Adam Ewing, ein amerikanischer Notar, soll Mitte des 19. Jahrhunderts den Erben eines Vermögens ausfindig machen. Er freundet sich mit einem Mann an, der sich Henry Goose nennt und Arzt zu sein behauptet. Adam fühlt sich nicht gut und wird von Goose mit einem Pulver gegen einen Wurm behandelt, der in Adams Hirn festsitzen soll. Adam lernt während seiner Seereise einen Moriori kennen und erfährt von den kriegerischen Maori und den versklavten Moriori.

Briefe aus Zedelghem (S.59-115 + 575-618)

Der mittellose junge Komponist Robert Frobisher flüchtet 1931 vor seinen Gläubigern nach West-Flandern, nimmt eine Stelle als Assistent des berühmten Komponisten Vyvyan Ayrs an, wird der Geliebte dessen Frau und der Gehasste dessen Tochter. Von seinen Abenteuern berichtet er seinem Freund, Geldübermittler und Geliebtem Rufus Sixsmith in Briefen. Robert liest Adam Ewings Tagebuch.

Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall (S.117-188 + 515-574)

Die Journalistin Luisa Rey untersucht 1975 Hinweise auf eine unsichere Nuklearanlage in Kalifornien. Dabei bekommt sie Unterstützung von dem Kernphysiker Rufus Sixsmith. Sie gelangt in den Besitz der Briefe von Robert Frobisher.

Das grausige Marytyrium des Timothy Cavendish (S.189-238 + 467-513)

Verleger Timothy Cavendish vermarktet im England der 2000er Jahre sehr profitabel das Buch eines Mannes, der einen Kritiker getötet hat. Die Brüder des Mannes stellen Forderungen an Timothy. Der sucht Hilfe bei seinem Bruder und landet unfreiwillig in einem gefängsnisartigen Seniorenheim. Unter den Manuskripten, die ihm zur Veröffentlichung gegeben wurden, befindet sich die Fiktionalisierung des ersten Falls von Luisa Rey.

Sonmis Oratio (S.239-318 + 415-465)

Im Korea des 21. Jahrhunderts, genannt Nea So Copros, arbeitet Sonmi~451, ein genetisch optimierter Klon, als Bedienung im Restaurant Papa Song. Sonmi wird als Terroristin verhaftet und von einem Archivar verhört. Ihr Todesurteil steht bereits fest. Sonmi sieht eine Verfilmung der Geschichte Timothy Cavendishs.

Sloosha's Crossin' un wies weiterging (S.319-413)

In einer weit entfernten Zukunft leben primitive Menschen nach der Apokalypse auf Hawaii. Ihr Dasein ist bestimmt durch Elend und Stammeskriege. Einer von ihnen, Zachry, erzählt am Lagerfeuer vom Besuch Fremder, die höher entwickelt waren. Eine von ihnen war die Wissenschaftlerin Meronym, die einen Orator besaß, ein silbernes Ei. Tatsächlich ist der Orator ein Speichermedium, dem die Insulaner die Geschichte Sonmis entnehmen.

Verschachtelungen

Einen Wolkenatlas zu erstellen ist ein seltsames Unterfangen, denkt man bei einem Atlas doch zuerst an die bildliche Dokumentation von etwas, das auf lange Sicht existiert. Wolken aber zeichnen sich insbesondere durch ihre Flüchtigkeit und die schnelle Formveränderung aus. Insofern aber ein Atlas betrachtet wird als Zusammenstellung von Momentaufnahmen, als Sammlung irgendwie zusammenhängender Karten oder anderer Abbildungen zu einem abgegrenzten Themenbereich, stellen sich zwei Fragen: was wird kartographiert, gibt es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Bausteinen des Romans?

"Der Wolkenatlas" besteht aus sechs ineinander verschachtelten oder eingebetteten Geschichten, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten spielen. Das Personal ist unterschiedlich, aber teilweise durch Déjà vus indirekt verbunden. So kommt Frobishers Wolkenatlas-Sextett Luisa Rey bekannt vor. Manche dieser Déjà vus verweisen auf die Möglichkeit von Seelenwanderung.

Fünf der Geschichten nehmen Bezug auf die zeitlich jeweils unmittelbar vorhergehende. Die ersten fünf Geschichten werden ungefähr in der Mitte abgebrochen und nach der sechsten in umgekehrter Reihenfolge weitererzählt (1-2-3-4-5-6-5-4-3-2-1). Dem Voranschreiten folgt eine Rückwärtsbewegung in der Zeitfolge der Geschichten. Der Roman endet schließlich dort, wo er beginnt.

Weitere Bewegungen beschreiben Motive des Aufstiegs und des Abstiegs bzw. Niedergangs. So springt Robert Frobisher aus einem Hotelzimmer auf die Straße, Luisa Rey wird von der Straße ins Wasser abgedrängt. In der ersten und der letzten Erzählung geht es bergauf und bergab in der Landschaft.

Die Ziffer 6 durchzieht den gesamten Roman. Was mit den sechs Geschichten seinen Anfang nimmt, setzt sich nach Innen fort mit dem Wolkenatlas-Sextett, Sixsmith, sechs Katechismen und vielen anderen Hinweisen.

Konstanz und Entwicklung

Jede der Geschichten spielt in einer anderen Zeit. Während die technologische Entwicklung der Menschen vorankommt, bleiben die Menschen getrieben von primitiven Impulsen - Hass, Gier, Neid, dem ganzen Spektrum an Gefühlen und Neigungen, das wir aus der Realität oder von Shakespeare kennen. Sie unterdrücken Schwächere und beuten sie aus.

Die Kluft zwischen ethischer und technischer Entwicklung wird immer größer, bis es in der Apokalypse zu einer Angleichung auf primitivem Niveau kommt. Nun kann die Menschheit das Spiel wieder von vorne beginnen...

Ist der erste Teil einer Erzählung in einem dunklen Grundton gehalten, so scheint im zweiten Teil immer ein wenig Hoffnung auf. Aber kann man am Ende einer Geschichte jeweils von leichtem Optimismus sprechen, Hoffnung für die Menschheit? Organisiert man die Erzählungen chronologisch, ergeben sich hier begründete Zweifel: Nach jedem hoffnungsvollen Ende wiederholt sich mit der folgenden Erzählung das Drama auf höherem Niveau - dies erinnert an einen spiralförmigen Verlauf von Geschichte. Aber innerhalb dieser gesellschaftlichen Entwicklung hat das Individuum Freiheitsgrade, kann sich gewisser Maßen bedingt freimachen von den größeren Entwicklungen.

Fazit

"Der Wolkenatlas" ist ein Roman, der erheblich weniger emotional ist als die Verfilmung. Wer zuerst den Film sieht, kann die mitgenommenen Eindrücke jedoch auf die Lektüre übertragen und somit einen etwas anderen Roman lesen. Der Roman beeindruckt durch formale Eleganz, die sprachliche Ausdifferenzierung in den einzelnen Geschichten und gut entwickelte Charaktere.

(Almut Oetjen, November 2012)

Der Wolkenatlas

David Mitchell, Rowohlt

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