Das Luftschiff des Doctor Nikola
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- Erschienen: Januar 2012
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Dr. Nikola und Dschingis-Khan: mongolische Intrigenspiele
Im Februar des Jahres 1920 ist abzusehen, dass die zaristischen "Weißen" den bolschewistischen "Roten" im russischen Bürgerkrieg unterliegen werden. Nur im Osten des zerstrittenen Riesenreiches können sich die Weißen noch halten. Zu denen, die weiter für die Monarchie kämpfen, gehört Baron Robert von Klingenberg. Er ist sich der nahen Niederlage ebenso wie der Tatsache bewusst, dass man ihn als Offizier und Kommandeur eines Kosakenregiments, das den "Roten" manchen bitteren Schlag versetzt hat, umgehend hinrichten wird.
Klingenberg will mit einem kühnen aber verzweifelten Plan das Schicksal herausfordern: In Wladiwostok ist der englische Herzog von Glenbarth an Bord eines riesigen Luftschiffs eingetroffen. Eigentlich wollte er die "Weißen" unterstützen, die ihm jedoch misstrauen. Klingenberg lernt den frustrierten Adeligen und seine Gattin, Lady Gertrude, kennen. Das Gespräch kommt auf einen gemeinsamen Bekannten - Dr. Nikola, das verbrecherische aber hochintelligente Genie, das sich vor zwei Jahrzehnten auf der Suche nach dem Ewigen Leben in ein tibetisches Kloster zurückgezogen hat. Nur er könnte Annabelle, der jungen Glenbarth-Tochter, helfen, die ihre Eltern begleitet, obwohl sie unter einer schweren Krankheit leidet.
Nikola gehört aktuell dem Hofstaat des Bogdo Khan an, der als mongolische Inkarnation Buddhas verehrt wird. Die Chinesen, die seit 1919 über die Mongolei herrschen, halten den Khan als Geisel in einer Bergfestung gefangen. Dorthin soll Glenbarth sein Luftschiff lenken, damit man die Gefangenen befreien kann.
Der Coup glückt. Mit dem Khan und Dr. Nikola an Bord flüchtet man ins ebenfalls chinesisch besetzte Urga. Dort soll Nikola Annabelle heilen. Dies lässt ihm noch genug Zeit, eine seiner meisterhaften Intrigen einzufädeln und die Mitglieder der Expedition gegeneinander auszuspielen, um sie seinem Willen zu unterwerfen ...
Manchmal kommen sie doch zurück
So etwas ist selten, um es untertreibend auszudrücken: Ein in Australien und England ausgebrüteter und bei der angelsächsischen Leserschaft beliebter Serienheld geht nach dem Tod seines geistigen Vaters ins Exil und kehrt 111 Jahre später zurück - ausgerechnet in Deutschland, wo man ihm bei seinem ersten Erscheinen keinen besonders warmen Empfang geboten hatte: Von den vier Doctor-Nikola-Romanen, die Guy Newell Boothby (1867-1905) verfasst hatte, erschienen hierzulande nur zwei. Erst 2010 kamen auch wir Deutschen in den Genuss sämtlicher Nikola-Schurkereien. Der Wurdack-Verlag hatte sich ihrer angenommen und diese vier Bücher neu übersetzen lassen bzw. erstmals veröffentlicht.
Offensichtlich fand der böse aber faszinierende Nikola immer noch bzw. endlich ein Publikum. Es kam sogar noch besser: 1901 hatte Boothby den seiner Tücken müden Nikola in ein tibetisches Kloster abgeschoben. Vermutlich hätte er ihn selbst reaktiviert, wäre ihm eine weitere Nikola-Geschichte eingefallen, doch Boothbys früher Tod im Alter von nur 37 Jahren setzte solchen mutmaßlichen Plänen ein Ende.
Ein Jahrhundert später leistet Autor Michael Böhnhardt deutlich mehr, als nur in die Bresche zu springen. Er hatte die Nikola-Romane erst quasi ´privat´ und später für den Wurdack-Verlag übersetzt und sich dabei in die Welt des nicht plakativ bösen sondern vor allem manipulativen Doktors eingearbeitet und eingelebt. So war Böhnhardt eine naheliegende Wahl, als Doctor Nikola aus dem Ruhestand geholt und in ein weiteres Abenteuer geschickt werden sollte.
Nikolas doppelte Frischzellenkur
Der Autor stand dabei vor einer doppelten Herausforderung. Einerseits sollte er an den Nikola-Handlungsbogen anknüpfen, der freilich über ein Jahrhundert alt sowie gealtert war, weshalb Böhnhardt andererseits inhaltlich und formal behutsam aber deutlich aktualisieren musste. Der heutige Leser schätzt auch in einer ´historisierenden´ Geschichte gewisse viktorianische Standards und Klischees nicht mehr. Also ist die weibliche Hauptfigur keineswegs auf die Rollen Opfer bzw. zukünftige Braut beschränkt, und auf den männlichen Arm ist sie nur insofern angewiesen, als sie seinen Besitzer in einer maskulin geprägten Gesellschaft geschickt dorthin lenkt, wo sie ihn sehen möchte. Auch als sexuelle Wesen dürfen Frauen nun auftreten, ohne dadurch als Handlanger des Teufels gebrandmarkt zu werden.
Michael Böhnhardt ist als Autor deutlich skrupulöser als Guy Boothby, der meist an mehreren Büchern gleichzeitig schrieb bzw. sie in einen Phonografen diktierte. Daraus resultiert eine Literatur, die auch deshalb ebenso trivial wie rasant ist, weil ihr Verfasser Abgabetermine einhalten musste. An aufwändige Hintergrundrecherchen war nicht zu denken. Deshalb beschränkt sich Boothby auf vage geografische, historische, kulturelle etc. Rahmenfakten, während Böhnhardt deutlich weiter ausholt und präzise wird, ohne die Tatsachen - die in einem ausführlichen Nachwort erläutert werden - die Handlung dominieren zu lassen. Die satte Unterfütterung des Geschehens ist eine echte Bereicherung. Böhnhardt ersetzt Boothbys unbekümmerten Handlungsfluss, den dieser sich als geborener Geschichtenerzähler und Zeitgenosse gestattete und gestatten konnte, durch eine kontrollierte Form des Erzählens.
Mehr Fleisch auf den Knochen
Diese Feststellung beinhaltet bereits die Antwort auf die Frage, ob sich der ´neue´ Nikola vom ´alten´ unterscheidet: ja - und zwar deutlich. Von Anfang an verzichtet Böhnhardt auf den Versuch, den Boothby-Stil nachzuahmen. Als Übersetzer von vier Nikola-Romanen hätte er es versuchen können. Selbst ein Gelingen wäre freilich kein Gewinn gewesen, denn um es mit anderen Worten noch einmal deutlich zu machen: 2012 schreibt man einfach nicht mehr wie 1900.
Dies schließt eine Handlungsführung ein, die den Helden nicht nur von Punkt A nach B usw. bringt, sondern einen roten Faden erkennen lässt. Boothby verließ sich auf ein grobes Konzept sowie darauf, dass ihm schon etwas einfallen würde. Das Ergebnis war oft danach, wenn wieder einmal der Zufall die Logik oder Routine die Inspiration vertreten musste. Solche Lücken und Sprünge weist diese Handlung nicht auf, obwohl "Das Luftschiff des Doctor Nikola" seine Insassen ebenfalls rasant von Ort zu Ort bringt.
Die Einbettung in ein durchaus konkretes historisches Umfeld bedingt eine gewisse Handlungsdisziplin, gibt aber auch interessante Entwicklungsmöglichkeiten vor. In einem nächsten Schritt beeinflusst es die Figurenzeichnung. Boothbys Helden und Bösewichte waren lebendig und farbenfroh aber eindimensional. Nicht nur der heutige Leser weiß beinahe stets, wie sie denken und handeln werden. Das Rollenbild hat sich jedoch auch in der Trivialliteratur geändert: Aus Schwarz oder Weiß wurde Grau in allen Schattierungen. Boothby hat in dieser Hinsicht experimentiert, sich dabei jedoch auf die Nikola-Figur beschränkt.
Keine Tat ohne Hintergedanken
Böhnhardt zeigt wesentlich mehr Mut zur Ambivalenz und geht dabei über Nikola hinaus. Robert von Klingenberg, die eigentliche Hauptfigur, ist kein Held, der auch deshalb naiv in Nikolas Fallen tappt, weil ihm solche manipulative Niedertracht fremd ist. Klingenberg ist ein durch Erfahrung zynisch gewordener Idealist, der sich bei Bedarf sehr unheldenhaft benimmt und damit leben kann.
Interessant ist die Neuinterpretation des Herzogs und der Herzogin von Glenbarth. Sie hatten sich in "Der Palazzo des Doctor Nikolas" gefunden und waren von Boothby in die üblichen Rollen - wackerer britischer Edelmann bzw. Jungfrau in Not - gepresst worden. Böhnhardt lässt nunmehr den Herzog nach der eigenen Tochter gieren, während Gattin Gertrude einerseits nach Kräften fremdgeht sowie kein Problem damit hat, mit Nikolas Hilfe der genannten Tochter die Jugend zu rauben.
Nikola selbst wird von Böhnhardt verständlicher als von Boothby als Mensch gezeichnet, der sich gänzlich seiner Suche nach Wissen verschrieben hat. Die erworbenen Kenntnisse sucht Nikola voller Neugier aber dabei skrupellos in die Tat umzusetzen. Ausgerechnet der so kindisch wirkende Bogdo Khan hat ihn durchschaut, der die Menschen nur als Versuchskaninchen für seine Experimente zwischen Wissenschaft und Magie betrachtet. Gänzlich über jegliche Niedertracht erhaben ist aber auch Dr. Nikola nicht, was für einen gelungenen Finaltwist sorgt. Bevor er sich nach Europa absetzt, um sich dort neuerlich als graue Eminenz im Hintergrund zu etablieren, zahlt er Klingenberg dessen ´Ungehorsam´ heim.
Das nächste Mal werden wir in den "Goldenen Zwanzigern" auf Nikola treffen, der sich als wahrer Kosmopolit in Berlin eingenistet hat. Nach dem gelungenen (sowie abermals als Sammler-Ausgabe schön gestalteten) Neu-Einstand darf man sich auf die Rückkehr des inzwischen unsterblichen Schurken freuen, den wir irgendwann womöglich - die Resonanz bei der Leserschaft wird es entscheiden - in der aktuellen Gegenwart werden tücken sehen können.
(Dr. Michael Drewniok, Oktober 2012)
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