Baltimore, oder, Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir
- Cross Cult
- Erschienen: April 2020
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Vampire Hunter B
„Fahre hin, o Kriegesmann! Den Tod musst du erleiden!“
-Hans Christian Andersen („Der standhafte Zinnsoldat“; 1838)
In einer pechschwarzen Nacht dirigiert Captain Henry Baltimore seine Männer über das Schlachtfeld. Um sie herum tobt der erste Weltkrieg und Tod und Verderben liegen in der Luft. Auf einer regelrechten Selbstmordmission führt Baltimore sein Platoon durch Stacheldraht, hügeliges Gelände und aufgetürmte Berge verwesender Leichen… direkt auf den Feind zu. Es herrscht absolute Ruhe und jeder Handgriff muss sitzen. Die trügerische Stille in dieser kalten Herbstnacht wird jedoch jäh unterbrochen. Pfeifende Geräusche durchdringen die Luft, die nach Verwesung und Kupfer stinkt, und kündigen hallend den drohenden Untergang an… Die Leuchtgeschosse des Feindes erhellen den Nachthimmel. Ein Hinterhalt. Noch bevor die Männer reagieren können und begreifen, dass sie den Feuersalven schutzlos ausgeliefert sind, gehen die ersten zu Boden. Tot, bevor sie diesen berühren. Die Hessen haben mit ihrem Überraschungsangriff leichtes Spiel und feuern unerbittlich aus allen Rohren. Auch Henry Baltimore geht zu Boden, nachdem ein Treffer seinen linken Oberschenkel zerfetzt. Die Schreie dröhnen dumpf in seinen Ohren… dann vernebelt sich sein Geist.
Als er die Augen wieder aufschlägt, herrscht Stille auf dem Schlachtfeld. Das Resultat des Massakers, welches sich erst kürzlich abspielte, spricht allerdings Bände und lässt sich nicht als Albtraum abtun. Begraben unter einem Leichenberg, aus Männern, die vor gefühlten Sekunden noch Seite an Seite mit Baltimore aufrecht und standhaft in Richtung Feind marschierten, scheint er der Einzige zu sein, der den Hinterhalt überlebt hat. Unter starken Schmerzen und nach Luft schnappend, befreit er sich aus seinem Gefängnis, bestehend aus leblosen Körpern. Seinen Blick Richtung Himmel gerichtet, erspäht er Kreaturen, die über diesem Ort des Grauens kreisen. Zu groß für Vögel, eher Drachen aus Sagengestalten ähnelnd. Sie landen… und nähern sich. Sie reißen den Toten das Fleisch von den Knochen, laben sich an ihnen. Als eine der Kreaturen, deren riesige Flügel schwarz wie die Nacht sind, auf Henry Baltimore zukriecht, um ihre spitzen Zähne in seinen Körper zu rammen, gelingt es dem Captain, dieses Höllenbiest zu verletzen. Mit einem Bajonett zerschneidet er dessen Gesicht. Ein Mal für die Ewigkeit. Doch anstatt sich durstig vor Rache auf den Verwundeten Soldaten zu stürzen, hat die verletzte Kreatur es auf dessen frische Wunde an seinem stark blutenden Bein abgesehen. Sie atmet hauchend in Baltimores aufgerissenen Schenkel. Der Odem des abgrundtief Bösen dringt in ihn ein. Infiziert ihn. Verpestet ihn…
„Wenn man sich von den Bergen entfernt, so erblickt man sie erst recht in ihrer wahren Gestalt; so ist es auch mit den Freunden.“
-Hans Christian Andersen („Das Märchen meines Lebens“; 1847)
Jahre nach diesem Ereignis versammeln sich drei Männer in einem Wirtshaus. In einer Welt, in der die Pest auf dem Vormarsch ist und keine Grenze ihr Einhalt zu gebieten scheint. So unterschiedlich diese Männer auch sind, so gleich ist der Grund ihres Erscheinens. Sie kennen sich nicht, doch eint sie die Freundschaft eines Mannes: Lord Henry Baltimore.
Kapitän Demetrios Aischros, der seit Lebzeiten zur See fährt und dementsprechend robust auftritt, Thomas Childress junior, ein Edelmann aus reichem Hause, und Doktor Lemuel Rose, ein angesehener Chirurg. Sie alle folgten der Einladung von Lord Henry Baltimore, der ihnen ein Schreiben zukommen ließ, um sich genau an diesem Datum an diesem unwirtlichen Ort einzufinden. Noch weiß keiner der Männer den Grund, warum Baltimore nach ihnen schickte. Sie gehen fest davon aus, dass der Gastgeber, der allen dreien in gewissen Lebensphasen zum Freund wurde, im Laufe des Abends zu ihnen stoßen wird. Noch ahnen sie nichts von Lord Baltimores langjähriger Mission. Nichts davon, dass sie bald enden wird… heute Nacht.
„Nichts ist schlimmer in der Poesie als die Mittelmäßigkeit. Schlimmeres kann es gar nicht geben.“
-Hans Christian Andersen (1805 – 1875)
Es ist wahrlich meisterhaft, wie „Hellboy“-Schöpfer Mike Mignola, der auch zahlreiche Illustrationen zu diesem Roman beisteuerte, und US-Bestseller-Autor Christopher Golden hier Hand in Hand arbeiten. Weit weg von allen gängigen Vampir-Klischees und durchaus klassisch, erzählen die Autoren eine packende Rahmenhandlung, die immer wieder durch die phantastischen Erzählungen und zugleich Erinnerungen der einst Fremden unterbrochen werden. Erinnerungen, die von ihrer Freundschaft zu Lord Baltimore erzählen und aus den Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zeitgleich eine Einheit formen. Jeder der Protagonisten gibt schaurige Erlebnisse zum Besten, die uns, den Lesern, mehr aus dem Leben von Henry Baltimore berichten. Geschichten über Verlust, Liebe, Rache und Tod… bis zum unausweichlichen Finale.
Der Schreibstil ist dabei so klassisch, wie der gesamte Roman selbst. Mignola und Golden schaffen es, dass ein regelrechter Film im Kopf abläuft… der idealerweise aus den legendären, britischen Hammer-Studios stammen könnte, welche ab den 1930er-Jahren zahlreiche Genre-Klassiker wie „Frankensteins Fluch“, „Dracula“, „Der Hund von Baskerville“ oder auch „Der Fluch von Siniestro“ hervorbrachten und zudem nach erfolgreicher Reanimation mit „Let Me In“, „Die Frau in Schwarz“ oder „The Quiet Ones“ den Grusel der alten Schule in die 2000er transportierten. Hier sollte auch lobenswerterweise die deutsche Übersetzung des Romans erwähnt werden, die höchst atmosphärisch und auf den Punkt gelungen ist. Christian Langhagen übersetzte sowohl den amerikanischen Text des Romans, als auch Hans Christian Andersens „Der standhafte Zinnsoldat“ aus dem Dänischen. Jenes Kunstmärchen, welches Pate für Mignolas und Goldens Erzählung stand und erfreulicherweise der Geschichte angehängt ist.
Erstmalig 2008 in einer deutschen Übersetzung erschienen, liegt nun die Neue Edition von „Baltimore, oder, Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir“ vor, welche ebenfalls über den Ludwigsburger Cross Cult Verlag als handliches Taschenbuch veröffentlicht wurde. Mit einer partiellen Spotlack-Veredelung auf Cover und Buchrücken, ist die Neuauflage eine unbedingte Empfehlung. Die zahlreichen, meist sehr kleinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Mike Mignola strotzen zwar nicht vor Details, unterstreichen aber die Stimmung stets zur rechten Zeit. Kenner seiner Arbeiten werden wissen, dass er eher grob und Schatten-lastig zu Werke geht… was hier nicht anders ist.
Fazit:
Eine klassische Grusel-Anthologie, die sich perfekt in eine epische Rahmenhandlung einfügt. Genre-Freunde kommen an diesem Meisterwerk nicht vorbei, welches vor allem durch Atmosphäre und Sprachstil punktet.
Christopher Golden, Cross Cult
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