Carrie

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  • Erschienen: Januar 1977
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Carrie
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Marion Weber
95°1001

Phantastik-Couch Rezension vonFeb 2006

Der Fluch des Blutes

Wohl kaum ein anderer Autor in der Literaturgeschichte schuldet seiner Frau derart viel Dankbarkeit wie Stephen King, war es doch seine Frau Tabitha, die Anfang der 70er Jahre das Manuskript zu "Carrie" aus dem Papierkorb fischte und ihren Mann, damals noch ein arbeitsloser Englischlehrer, dazu überredete, es fertig zu schreiben und den Verlagen anzubieten. Der Grundstein für sein späteres literarisches Schaffen war damit gelegt, alles weitere liest sich aus heutiger Sicht wie die perfekte Version der amerikanischen "from rags to riches"-Biographie. Knapp 40 Jahre später ist Stephen King nicht nur der finanziell erfolgreichste Schriftsteller der Welt, sondern gilt auch als unangefochtener "Grand Master of Horror", der eine ganze Generation folgender Schreiberlinge des Genres inspiriert und beeinflusst hat. Umso interessanter der Blick auf diesen allerersten Erfolgsroman, welcher jedoch mitnichten der erste war, den King geschrieben hat. Einige der frühen vier, die genauen Titel sowie ihre Anzahl sind immer noch umstritten, kamen ein paar Jahre später, überarbeitet, unter dem Pseudonym "Richard Bachman" heraus, das der zum damaligen Zeitpunkt bereits berühmte King wählte, um zu sehen, ob sich sein Stil möglicherweise auch ohne den zugkräftigen Namen verkaufen würde. (Der Erfolg blieb, so groß er war, weit hinter den "King"-Werken zurück)

Nimmt man "Carrie" heute in die Hand und schaut sich gleichzeitig die weiteren King-Titel im Regal an, fällt dem Betrachter vor allem der geringe Umfang von knapp dreihundert Seiten ins Auge, der sich im Vergleich zu den späteren epischen Wälzern beinahe mickrig ausnimmt. Bringt man sich dabei noch in Erinnerung, dass das ursprüngliche "Müll"-Manuskript gerade mal 98 Seiten umfasste, wird die bemerkenswerte Entwicklung des Autors King umso deutlicher. Das ein jeder für eine steile Karriere aber unten beginnen muss, kann auch "Carrie" nicht verhehlen. Auch wenn es in Punkto Qualität und Wirkung sich nicht hinter Meisterwerken wie "Brennen muss Salem" oder "Es" verstecken muss, haftet dem Buch doch dieser typische Erstlings-Charakter an. Stark am Zeitgeist der 70er Jahre orientiert, bot es eine Gänsehaut für Puristen, die angesichts moderner Splatter-und-Folter-Werke, oberflächlich gesehen, schrecklich trivial erscheint. Eine Kritik, welche der haarscharfe Beobachter aber bereits nach wenigen gelesenen Seiten relativieren muss, denn "Carrie" hat weder an Aktualität noch an Intensität verloren.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht das titelgebende junge Mädchen, das, aufgewachsen im Schatten des religiösen Wahns ihrer fanatischen Mutter, als Außenseiterin ihr Leben an der Ewen High School im kleinen Städtchen Chamberlain fristet. Versehen mit der Gabe der Telekinese, lässt sie bereits als Dreijährige einen Steinregen auf ihr Elternhaus prasseln, weil die Mutter ihrer in "Sünde gezeugten" Tochter nach dem Leben trachtet. Dreizehn Jahre später sieht sich Carrie nicht enden wollendem Spott seitens ihrer Mitschüler ausgesetzt, welche keinerlei Gelegenheit auslassen, um das scheue, zurückhaltende Mädchen für ihren christlichen Glauben und die aus ihrer Erziehung resultierende Unwissenheit zu hänseln. Den Höhepunkt findet das Ganze schließlich im Duschraum der Sporthalle, wo Carrie, vollkommen überrumpelt vom Eintreten ihrer ersten Menstruation, mit Binden und Tampons beworfen und schließlich von der Sportlehrerin nach Hause geschickt wird.

Was zu diesem Zeitpunkt keiner weiß: "Der Fluch des Blutes", wie ihre Mutter später kalt feststellt, führt schließlich zu einer Kette von Ereignissen, welche die zurückhaltende Carrie an ihre Grenzen und darüber hinaus treiben. Während manch einer versucht, die begangenen Gemeinheiten durch gute Taten zu sühnen, bereiten sich andere auf einer allerletzten Streich vor, der Carries Position innerhalb der Gemeinschaft der anderen Schüler und Schülerinnen endgültig vernichten soll. Um ihre erste aufkeimende Liebe gebracht und durch Wut und Verzweiflung zum Äußersten getrieben, entfesselt Carrie schließlich ihre Gabe, um Kraft ihres Willens gnadenlose Rache zu nehmen ...

Auch wenn das Motiv des Loser-Teenagers bereits zu Beginn der 70er Jahre kein Neues mehr war - derart emotional auf die Spitze getrieben und in seiner Essenz erfasst, hat es wohl nur Stephen King, der in einem von Vietnam-Krieg, Umweltzerstörung und atomarer Bedrohung geprägten Amerika, die Angst mit "Carrie" wieder auf ihren Ursprung reduziert. Es ist der alltägliche Horror, der Blick unter die Dächer und damit hinter die Kulissen der sauberen Vorstadtsiedlungen und Kleinstädte, welcher den Autor nicht nur durch seine weiteren Werken begleitet, sondern letztlich auch seine große Popularität begründet hat. Grusel, Schrecken, Spannung - all dies ergibt sich in erster Linie aus den ursprünglichen, menschlichen Gefühlen und nicht aus den durchaus auch immer präsenten übersinnlichen oder fantastischen Elementen. Der Grund warum man die Seiten von "Carrie" schon direkt nach Beginn der Lektüre immer fester packt, ist die gefühlsmäßige Verbindung zu den Figuren, deren präzise Zeichnung Stephen Kings herausragende Stärke ist. Ob Wut, Hass, Mitleid oder eben Angst - die Gefühle dieser fiktiven Charaktere sind stets nachvollziehbar und vor allem nachfühlbar. So resultiert die Spannung schließlich aus Dingen, welche man in ähnlicher Form selbst bereits erlebt hat.

In "Carrie" ist dieses Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen Kings zwar erst in Ansätzen vorhanden - im Verbund mit den fiktiven, (pseudo-)wissenschaftlichen Fachartikeln und Verhandlungen der White-Kommission, welche King nachträglich einbaute, um einerseits den Umfang zu strecken und andererseits die Authentizität zu erhöhen, ergibt sich jedoch ein äußerst intimer Einblick in die Schicksale der Figuren. Das dieser so prägend ausfällt, ist auch insofern verwunderlich, da eigentlich niemand der Beteiligten in seinen Handlungen Sympathie erwecken kann. Selbst gut meinende Charaktere wie Miss Desjardin oder Sue Snell können sich ihrer Abscheu für Carrie nicht erwehren, müssen sich von der Falschheit der gegen sie begangenen Taten mit Logik überzeugen, weil ihre Gefühle, wie die aller anderen, gegen die Außenseiterin sprechen. Diese innere Zerrissenheit zieht sich durch das gesamte Buch und sorgt für diese immense Sogkraft, der man sich nur schwer entziehen kann. Und das obwohl durch oben genannte Berichte dem Leser bereits Fakten zukünftiger Ereignisse bekannt gemacht werden und man dadurch eigentlich bereits weiß, wohin das Ganze führt.

Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch - im Gegenteil: Durch sie wird das Ausmaß der Katastrophe, welches im Kleinen, nämlich im Hause der Whites, seinen Anfang nahm, in seiner vollen Tragweite deutlich. Angesichts heutiger Schulmassaker, nicht nur in Amerika, ist der beinahe deckungsgleiche Verlauf ein zusätzlich unheimlicher und nachdenklich stimmender Nebeneffekt. Dazu passt auch der Ursprung der Figur Carrie, die ein reales Vorbild hat. King, der als Kind in Durham, Maine lebte, wählte den Namen aufgrund eines seltsamen Mädchens, welches mit ihm zusammen zur Schule fuhr und von allen gemieden wurde - im Erwachsenenalter nahm sie sich das Leben.

Trotz durchaus vorhandener und kritikwürdiger Schwächen - Stephen Kings Frühwerk "Carrie" ist, immer noch, ein in allen Belangen überzeugender Horror-Roman. Ein perfekter Einstieg in das Kingsche Universum, der mich persönlich tief beeindruckt und endgültig zum "Jünger" dieses fantastischen Schriftstellers gemacht hat.

(Stefan Heidsiek, März 2013)

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