Die Räder der Welt
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 2012
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Im Räderwerk einer mechanischen Parallel-Erde
Ausgerechnet dem Uhrmacherlehrling Hethor Jacques aus New Haven in Neuengland erscheint eines Nachts der Erzengel Gabriel, um ihn mit einer brisanten Mission zu betrauen: Die Antriebsfeder des Räderwerks, mit dessen Hilfe Gott dieses Universum in Gang hält, hat ihren Schwung verloren. Man muss es mit dem "Schlüssel der Ewigen Bedrohung" wieder aufziehen. Dieser gilt allerdings als Mythos; niemand hat ihn je gesehen.
Ohnehin hat sich Gabriel einen denkbar ungeeigneten Weltenretter ausgesucht. Hethor ist ein Waisenkind ohne Geld und Einfluss. Als er seinen Auftrag tatsächlich akzeptiert, ist er auch seinen Job los, denn sein Meister wirft ihn vor die Tür. Am Hof des Vize-Königs in Boston wird Hethor ausgelacht und eingesperrt. Zu seinem Glück hat er das Interesse einer geheimen Gesellschaft erregt, die Hethor Glauben schenkt. Dies tut allerdings auch William of Ghent, ein mächtiger Hexenmeister, der einer anderen Organisation vorsteht, die das Räderwerk auslaufen lassen will.
Um Hethor aus der Schusslinie zu bringen, schaffen ihn seine Verbündeten an Bord des Militär-Luftschiffs "Bassett", das eine Erkundungsfahrt zur großen Äquator-Mauer unternimmt. Als einfacher Matrose reist Hethor dorthin, wo er hoffentlich die Fäden seiner Mission wieder aufnehmen kann. Steuermann Simeon Malgus outet sich als Hethors Kontaktmann, doch er wird schon bald nach dem Erreichen des Ziels von geflügelten Kreaturen entführt.
Die Expedition durch die Wildnis der Äquator-Mauer gipfelt in einer Serie von Desastern. Das Schiff wird mehrfach attackiert, und schließlich schnappen sich die Kreaturen auch Hethor. Sie verschleppen ihn in einen Tempel, der sich als Stützpunkt jener Macht entpuppt, die Hethor ihre Hilfe zukommen lässt. Er muss erfahren, dass er Auskunft über den Schlüssel nur auf der Südhalbkugel der Erde erhalten kann, aber um dorthin zu gelangen, muss er die Mauerkrone überwinden ...
Der Mechanismus des Universums
Der menschlichen Fantasie waren und sind in der Schöpfung alternativer Welten keine Grenzen gesetzt. Wieso also kein Kosmos, in dem nicht die Schwerkraft die Bewegungen von Planeten, Monden etc. bestimmt, sondern diese über gigantische Zahnradbahnen geregelt werden, über die genannte Himmelskörper laufen? Damit dies funktioniert, erheben sich über und um ihre äquatorialen Gürtel jeweils gewaltige Felsmassive. Sie werden die von funkelnden Messingzacken gekrönt, die in die entsprechenden Aussparungen der titanischen Bahn um die Sonne greifen. Auch die Erde wird durch einen 150 Kilometer in die Höhe ragenden, 40.000 km um den Globus reichenden Kranz in ein monumentales Zahnrad verwandelt.
Auf der Erde bildet die äquatoriale Mauer eine ´natürliche´ Grenze. Lückenlos umschließt sie den Globus und teilt ihn in eine nördliche und eine südliche Halbkugel. Wäre diese Welt der ´normalen´ Physik unterworfen, blieben die Bewohner der beiden Sphären unter sich, ohne je miteinander Kontakt aufnehmen zu können. Jay Lake hebelt dieses Hindernis aus und verschafft der Mauer eine eigenen Schwerkraftzone, die so viel Atmosphärenluft bindet, dass der Zahnradbogen in voller Höhe er- und überstiegen werden kann. Gleichzeitig haben sich auf den Flanken der keineswegs lotrechten Mauern fremde Völker und seltsame Kreaturen angesiedelt, die neugierigen Besuchern meist unfreundlich begegnen.
Für Abenteuer ist also gesorgt. Noch mehr Exotik impft Autor Lake der Handlung ein, indem er sie in einer Parallelwelt spielen lässt, die der unseren stark ähnelt. Der Reiz liegt im Spiel mit den Faktoren Politik, Geografie und Geschichte. Lake verfremdet sie so, dass sie besonders bizarr wirken: Also herrscht auch auf der "Clockwork Earth" im Jahre 1900 Queen Viktoria. Allerdings ist ihr Empire deutlich gewaltiger als in der zeitgenössischen Realität: Es umfasst beinahe die gesamte Nordhalbkugel, und gern würde Viktoria sich auch die Reiche jenseits der Mauer einverleiben. Nur die Chinesen bieten ihr Paroli, was einen ständigen Krieg toben lässt.
Mission und Reife
In diese Welt setzt Lake den Uhrmacher-Gesellen Hethor Jacques. Wie es sich für einen zukünftigen Helden gehört, muss er in jeder Beziehung ganz unten anfangen. Hethor ist ein armes Waisenkind, das von den Söhnen seines Lehrherrn ordentlich herumgestoßen wird und trotzdem wissbegierig, offenherzig und mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet ist. Diese Trias wird ihn zuverlässig in Schwierigkeiten bringen, zumal Hethor zu allem Überfluss recht naiv ist.
Schon die simple Zeichnung der Hauptfigur belegt, dass "Die Räder der Welt" kein tiefschürfendes Werk ist. Das Spektakel steht im Vordergrund, und da Jay Lake ein sehr beschäftigter Autor ist, greift er gern auf zeitsparende Klischees zurück. Im Grunde bleiben sämtliche Figuren flach und kraftlos. Man kann sich zudem des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Buch eines dieser "All-Age"-Abenteuer ist, mit denen die Buchläden dieser Welt seit einigen Jahren förmlich gepflastert werden. Dafür sprechen zudem die hier und da eingestreuten pubertären Wallungen des Helden, die vor allen Dingen unter die Kategorie "Klischee" fallen.
Auch mit der Konstruktion seiner Geschichte hat sich Lake deutlich weniger Mühe gegeben als mit dem (literarischen) Bau eines uhrwerkgetriebenen Universums. Man sollte meinen, dass eine buchstäblich weltbewegende Mission wie die Suche nach dem "Schlüssel der Ewigen Bedrohung" deutlich zielorientierter vonstattenginge. Zwar legt sich Hethor anfänglich mächtig ins Zeug, doch später scheint er mit der Rolle des Navigators und Entdeckers zufrieden zu sein. Die Fortsetzung der Mission erfolgt eher zufällig. Seltsamerweise erscheint Gabriel kein zweites Mal, um Hethor endlich Feuer unter dem faulen Hintern zu machen.
Schritt für Schritt voran und doch nicht zielstrebig
Überhaupt zerfällt "Die Räder der Welt" recht deutlich in drei flüchtig verknüpfte Teile. Sehr langsam beginnt die Geschichte mit Hethors Lehr- und Wanderjahren, die gleichzeitig Einführung in Lakes Uhrwerk-Universum ist. Des Lesers Ungeduld ob eines Verfassers, der allzu eng an Details klebt, mag sich in dem Wissen mildern, dass Lake hier außerdem Grundlagenarbeit für den Gesamt-Zyklus leistet: Vielen der nun eingeführten Figuren werden wir in den nächsten beiden Teilen dieser Trilogie wieder begegnen.
Der Mittelteil liest sich am besten. Hier findet Lake das Gleichgewicht zwischen Idee und Umsetzung. Die Irrfahrt der Bassett zur und an der äquatorialen Mauer ist spannend, mysteriös und verspricht viel: Wenn dieser Abschnitt schon so gelungen ist - wie toll muss dann das Finale werden!
Leider ist dies ein Trugschluss. Sobald die Mauer überwunden ist, gingen Lake offenbar die Ideen aus. Die Handlung wird fahrig, sentimentale "Paradise-Lost"-Romantik um das "kleine Volk" soll den Leser in den Bann ziehen. Statt zum Höhepunkt zu werden, an dem der Verfasser alle Fäden rafft, verpufft das Finale zum beliebigen, hastig abgespulten, inhaltlich wie formal unbefriedigendem Ende. Für den gewaltigen Aufwand, mit dem Lake sein Epos einleitete, fehlt hier jedes Gegengewicht.
So laufen "Die Räder der Welt" letztlich nicht nur in Hethors Welt recht unrund. Der Leser bleibt unschlüssig: Soll er wieder einsteigen, wenn es weitergeht? Lake hat die Faustregel für moderne Fortsetzungsgeschichten beherzigt: Verlängere jeden folgenden Teil um mindestens 200 Seiten! Die Rückkehr ins "Clockwork"-Universum bedeutet für den Leser folglich echte Lektürearbeit - ein Aufwand, den er sich aufgrund dieses buchstäblich mittelprächtigen Auftakt-Bandes überlegen wird und sollte!
(Dr. Michael Drewniok, Juli 2012)
Jay Lake, Bastei-Lübbe
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