Weitlings Sommerfrische
- Piper
- Erschienen: Januar 2012
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Zeitreise in eine alternative Vergangenheit - und zurück in eine neue Zukunft
Der in Berlin lebende Autor Sten Nadolny schreibt keine Science Fiction. Dennoch legt er jetzt mit "Weitlings Sommerfrische" eine Art Zeitreisegeschichte vor, die mindestens einen neugierigen Blick und eine Besprechung hier auf der Phantastik-Couch rechtfertigt. Dabei ist es spannend zu sehen, dass sich auch nicht auf dieses Genre spezialisierte Schreiber gerne von phantastischen Stoffen und Motiven inspirieren lassen. Interessante Ausflüge ähnlicher Art bieten etwa Herbert Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit" oder jüngst Audrey Niffeneggers "Die Frau des Zeitreisenden".
Das Thema Zeitreise ist natürlich eines, das seit H. G. Wells stilbildendem Roman "Die Zeitmaschine" eine große Bezauberung auf Schreiber und Leser gleichermaßen ausübt. Das eigentliche Motiv ist allerdings wesentlich älter. Ähnlich wie Ikarus mit seinen künstlichen Flügeln die Schwerkraft besiegt, ist es ein Urtraum des Menschen, in der Zeit vor- und rückwärts zu reisen und dem unbeugsamen Diktat des Gegebenen zu entkommen. Bereits im indischen Mahabharata-Epos (Sanskrit, ca. 400 v. Chr.) ist ein Zeitsprung dokumentiert, worin die Protagonisten folgendem Paradoxon begegnen: Sie stellen fest, dass während einer Reise in eine andere Sphäre, die nur einen Augenblick gedauert zu haben scheint, in ihrer ursprünglichen Welt mehrere Jahrhunderte verstrichen sind.
Die Zeitreise ist aber besonders ein Faszinosum der Moderne und hängt stark mit den Erkenntnissen der Physik und Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen, als viele Einsichten in unseren Kosmos und über die Beschaffenheit von Zeit und Raum gewonnen wurden. In "Weitlings Sommerfrische" ist der Zeitsprung allerdings nicht ein Resultat menschlicher Absicht oder gar raffinierter Technologie, sondern ein ´Malheur´ des Schicksals, was in der ursprünglichen französischen Form soviel wie ´schlechte Stunde´ bedeutet.
Déja vu auf dem Chiemsee
Trotz Kenntnis der lokalen Wetterbedingungen gerät Richter Wilhelm Weitling auf dem bayrischen Chiemsee in ein Unwetter. Sein Boot kentert und nur mit Glück entkommt er dem Tod. Eine Situation, die Weitling seltsam vertraut vorkommt, denn schon als Jugendlicher erlebte er Ähnliches. Auch damals kenterte die ´Chiemseeplätte´ und der sechzehnjährige Willy kam gerade mit einem blauen Auge und dem Schrecken davon. Bei seiner zweiten Havarie wird der fest im Leben stehende Richter und Erzähler nun arglos in die eigene Vergangenheit zurückkatapultiert. Dort wird er zum Beobachter seines eigenen sechzehnjährigen Ichs, allerdings ohne dass er dabei auf sein früheres Leben Einfluss nehmen könnte. Er nimmt gewissermaßen die Position eines stummen Geistes ein, der wie durch einen Fluch an sein jugendliches Ich gebunden ist.
Aber seltsamerweise erweist sich Willys Alltag nicht in jedem Fall als die exakte Wiedergabe von Weitlings Erinnerung. Die Familie mit Mutter und Vater Weitling, sowie der etwas senile Großvater mütterlicherseits, sie alle sind natürlich dieselben geblieben. Auch Willys Lehrer und Klassenkameraden, seine erste Liebe und das Elternhaus am Ufer des Chiemsees. Willys lausige Lerngewohnheiten in der Schule scheinen unverbesserlich und lassen den erwachsenen Weitling rätseln, wie der Bursche überhaupt das Gymnasium geschafft hatte. Doch fallen Weitling immer wieder Unrichtigkeiten in seiner Biographie auf, die einfach nicht so passiert sind. Angefangen beim Bootsunfall, bei dem sich der Junge die Hand an einem Nagel verletzt hatte und die jetzt, in der neuen Vergangenheit, unversehrt geblieben ist. Beunruhigender sind allerdings die Unterschiede in Willys Umfeld. Vater Weitling, beispielsweise, ein von der Kritik geschasster aber gut gelesener Schriftsteller, muss alsbald der Mutter den Vorrang in Sachen Erfolg überlassen, als sie plötzlich mit einem Romanmanuskript hervorkommt, dessen spätere Veröffentlichung sogar Vaters ´Bestseller´ übertreffen wird.
Nadolny dröselt die Altherrenfantasie, die man auf den ersten Seiten noch erwarten mag, bewusst auf und spinnt ein neues Garn daraus. Willys Jugend ist eine kleine heile Welt voller Befangenheiten, gesellschaftlich gefestigter Normen und dem unabwendbaren Aufbruch in neue Zeiten. Grundsätzlich ist dem erwachsenen Weitling sein Vorgänger in der Zeit ein Rätsel, über das er sich oft furchtbar (gerne) aufregt. Aber auch die Existenz des Richters ist plötzlich eine, die durch das Mysterium des Zeitsprungs eine neue Würze erfährt. Denn er muss ja um die Rückkehr in seine gefestigte Zukunft fürchten.
Der Roman ist Reflexion und Erleben gleichermaßen und Selbstverständlichkeiten und Gewissheit gibt es darin nicht. Nadolny ist ein Erzähler, der elegant unterhält und gleichzeitig unaufdringlich eine gute Portion Lebenserfahrung vermittelt. Das Buch wirft insgeheim die Frage auf wie zuverlässig Erinnerung sein kann. Taugt sie als Instrument, ein Leben in seiner Ganzheit zu bewerten?
Eine Sommerfrische, die kann jedem passieren
Der Richter bleibt glücklicherweise keine permanente Geisel des jugendlichen Willy. Immer wenn der Junge schläft, kann er sich von ihm lösen und Beobachtungen fernab seines ´Gastgebers´ anstellen. Im Schlaf verrät ihm sein seniler Großvater (mit dem sinnhaften Namen Von Traumleben), dass er, Weitling, offenbar ein sogenannter Sommerfrischler sei. Ein Phänomen, das dem Großvater selber nicht unbekannt sei, da dieser auch aus einem alternativen Leben stamme, in dem er übrigens ein nicht unwesentlich berühmterer und einflussreicherer Maler gewesen sei. Dass der Sommerfrischler keinerlei Beeinflussung auf die Dauer dieses Phänomens nehmen könne, ist Weitling dabei kein Trost. Hilft womöglich beten?
Die Form einer solchen Zeitreisegeschichte lässt es natürlich nicht zu, dass Nadolny seinen Erzähler in dessen eigener Jugend feststecken lässt. Gnädigerweise entlässt er ihn nach ein paar Monaten wieder in seine Zukunft, die natürlich nicht die gleiche sein kann wie die alte. Hier entwirft der Autor seinem Protagonisten eine neue Existenz, mit der sich dieser arrangieren muss. Doch die Zukunft macht nicht alles neu, manches ist sich gleich geblieben, was der anfangs noch etwas verdatterte Weitling erleichtert feststellen darf. Eine Konstante seines Lebens scheint seine Frau Astrid zu sein, die ihrem Mann großzügig und mit viel Einfühlungsvermögen über die eine oder andere ´Gedächtnislücke´ in seiner neuen Biografie hinweghilft.
"Weitlings Sommerfrische" ist inspirierende und kurzweilige Belletristik, aus der man noch etwas mehr Leben hätte herauskitzeln können. Die Gegensätze zwischen der Welt eines Sechzehnjährigen, wo manche Meinung zementiert, aber nichts wirklich unveränderlich ist, und einer gestandenen Erwachsenenbiografie, sind zwar herausgearbeitet, aber echte Reibung entsteht selten. Im besten Fall mündet das in eine Szene, wo Vater Weitling seinem Sohn nach einer politischen Debatte die Apfelmusschüssel hinterherwirft. Ein andermal prellt der Richter den Leser um eine Szene, worin Willy "an sich herumzuspielen" beginnt, nur weil er das gar nicht "so genau" wissen will. Überhaupt wird der Text gerade den erotischen Vorstellungen eines Sechzehnjährigen nicht ganz gerecht. Nicht, dass ich jetzt in dieser Hinsicht seitenlange Exkursionen erwartet hätte, aber es wurde mir doch klar, dass der Erzähler schon seine Beobachtungen filtert und sie mit einem weiteren Abstand später erst schriftlich fixiert. So wie der Richter bei seinem Beruf einem Prozess ´vorsitzt´ und diesen lenkt, besitzt der Erzähler letztlich die Gewalt über ´seine´ Geschichte. Diese gleitet zwischendurch auch gerne ein wenig ins Lehrstückhafte ab. Ich hätte mich über die eine oder andere ´erlebte´ Szene mehr gefreut statt über jeden neuen Exkurs über Gott und die Welt. Gerade während der Rückblende in Weitlings Sommerfrische hätte Nadolny seinem jugendlichen Protagonisten und Studienobjekt Willy etwas mehr Raum lassen dürfen, als Gegenpart zum ´verkopften´ Richter.
Trotz allem bleibt es eine gelungene Fiktion, die das Thema Zeitreise mal eher unter biografischen Gesichtspunkten durchspielt.
(Thomas Nussbaumer, Juli 2012)
Sten Nadolny, Piper
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