Die Heimsuchung
- Festa
- Erschienen: Januar 2012
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Böser Besuch aus dem Urschleim der Erde
Oscola ist eine abgelegene Kleinstadt im Adirondack-Gebirge des neuenglischen US-Staates New York. Hier lebt zurückgezogen der ehemalige Physiker Brian Kelly. Er übt seinen Beruf nicht mehr aus, seit vor Jahren seine Ehefrau und Kollegin Mary und Tochter Caitlin in einem Feuer starben, das auch ihn schwer verletzte. Aktuell ist Kelly mit der Vietnamesin Loi verheiratet, die im achten Monat schwanger ist.
Unheimliches geht neuerdings vor in und vor allem um Oscola. Auf dem Grundstück des alten Richters terBroeck dringen Schreie aus der Erde. Während die Suche hier ins Leere läuft, wird an anderer Stelle eine Frau aus der Tiefe gezogen; ihre Knochen wurden förmlich pulverisiert. Das Rätsel ruft Ellen Maas, Eigentümerin der "Gazette", auf den Plan. Sie sieht terBroeck als treibende Kraft hinter den mysteriösen Ereignissen; eine nächtliche Exkursion zeigt ihr sein Haus als Treffpunkt eines Kultes. Als die Journalistin entdeckt wird, versucht sie eine Art Kollektivintelligenz aus riesigen Leuchtkäfern außer Gefecht zu setzen.
Auf Bitten seines Freundes, des State Troopers Robert West, unterstützt Kelly die Polizei bei ihren Ermittlungen. Der Physiker stellt fest, dass man seine Experimente an anderer Stelle fortgesetzt hat, nachdem er das Projekt verließ. Dabei ging es um die Erforschung von subatomaren Partikeln, die möglicherweise rückwärts durch die Zeit reisen können. Sollte auf diese Weise eine Brücke in eine Vergangenheit geschlagen worden sein, deren Bewohner nun unheilvoll in die Gegenwart drängen?
Aus dem Verdacht wird Gewissheit, als West entführt wird aber befreit werden kann: Unter der Erde hat sich eine der Menschheit feindlich gesonnene Macht eingenistet. Oscola wird von der Außenwelt abgeschnitten, bevor sie eines Tages hervorbricht, um mit der Invasion der Erde zu beginnen. Nur Kelly und einige Verbündete nehmen den Kampf gegen den unerbittlichen Gegner auf ...
Der Meister und sein Schüler?
Wer hätte gedacht, dass man H. P. Lovecraft (1890-1937) ehren kann, ohne ihn zu imitieren? Die meisten Lovecraft-Epigonen - es gibt sie übrigens auch oder sogar besonders zahlreich hierzulande - gehen entsprechende Storys als Pastiches an, beschränken sich auf das vom Meister vorgegebene Inventar und ignorieren tunlichst, dass sich auch die literarische Welt seit 1937 weitergedreht hat.
"Die Heimsuchung" erschien 1993 und war deutlich weniger erfolgreich als frühere Strieber-Romane. Viele Jahre später kann man zu dem Schluss kommen, dass der Autor seiner Zeit ein wenig zu weit voraus war. In einem Meer vor allem blutrünstiger Splatter-Spektakel hält sich die angejahrte "Heimsuchung" inzwischen wacker. Die Geschichte ist klassisch: Nicht der Gore-Effekt, sondern der Plot steht im Vordergrund. Er wird eingeleitet, sorgfältig entwickelt und gipfelt in einem Finale, das die Story nicht nur bündelt, sondern eine Reihe sich aufschaukelnder Höhepunkte noch einmal gewaltig steigert.
Striebers Horror-Opus funktioniert übrigens auch ohne Kenntnis des Lovecraft-Subtextes prächtig. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Lovecrafts Idee einer ´universellen´ Historie, die Äonen zurück in eine Vergangenheit reicht, in der es die Menschen noch nicht gab, in der gegenwärtigen (Unterhaltungs-) Literatur längst zum Topos (und womöglich zum Klischee) geworden ist.
Eine besondere Art von Monster
Das formlose, dem Urschleim nicht nur zeitlich nahe Leben ist eine weitere Idee, für die Lovecraft nicht das Patentrecht beanspruchen könnte; er hat es auch nie getan, sondern selbst auf jene hingewiesen, die das Grauen vor ihm auf diese Weise beschworen. Lovecraft nannte Arthur Machen (1863-1947), William Hope Hodgson (1877-1918) oder Clark Ashton Smith (1893-1961), aber er selbst kann für sich in Anspruch nehmen, den amorphen Schrecken in (s)ein universelles Konzept mit einer Vielzahl ähnlich bizarren, fremdartigen und feindseligen Kreaturen eingebunden zu haben.
Strieber erweitert diese Vorgabe um eine besondere Komponente: Nicht reine, quasi angeborene Bosheit lässt die Macht unter der Stadt Oscola ihre schauerlichen Taten begehen, sondern begründete Existenzangst. Einerseits fremd und andererseits beinahe ´menschlich´ wirkt die Entscheidung, nicht den friedlichen Kontakt zu suchen, sondern zur Invasion zu schreiten.
Auf der anderen Seite ist es die so malträtierte Menschheit selbst, die das Böse rief, das nun nicht mehr weichen will. "Die Heimsuchung" steht deutlich in einer recht jungen Tradition: Spätestens seit den 1970er Jahren hatten nicht nur die Bürger in den USA gelernt, dass man der Regierung nicht unbedingt trauen konnte oder sollte. Das schlimmste Unrecht wurzelte nicht mehr im kommunistischen Ostblock. Es war jetzt hausgemacht. In "Die Heimsuchung" muss Physiker Kelly feststellen, dass man die von ihm angestoßenen Forschungen nach seinem Ausscheiden keineswegs eingestellt, sondern fortgesetzt und ausgeweitet hat. Wer dafür die Verantwortung trägt, bleibt ungesagt, ist aber für die Geschichte keineswegs unerheblich: Zwar wird der Feind zurück in den Abgrund der Zeit getrieben, aber eine anonyme Macht - die Regierung? - übernimmt erneut die Aufsicht. Soldaten besetzen das Labor, in dem das Grauen seinen Anfang nahm. Mit einem Neustart der Experimente ist also zu rechnen, der Teufel wurde gegen Beelzebub ausgetauscht.
Verloren aber standhaft
Mit dem Schrecken konfrontiert wird bei Strieber nicht die übliche Schar scheinbar durchschnittlicher US-Bürger, die in der Not den Pionier in sich wiederentdecken und über sich selbst hinauswachsen. Zwar scheint dies auf den ersten Blick so, aber sehr schnell wird deutlich, wieso die Gegenwehr gegen den an sich übermächtigen Feind gelingen kann: Zu den Hauptfiguren zählen einige echte Überlebenskünstler.
Für den heutigen Leser ist der Vietnamkrieg Episode einer längst versunkenen Vergangenheit. 1993 lag sein Ende erst wenige Jahre zurück; noch war er nicht historische Erblast, sondern in seinen Folgen alltäglich präsent. Auch in Oscala gibt es frische Wunden. Kellys Ehefrau Loi musste in Vietnam als "Tunnelratte" im Dschungelkrieg mitkämpfen. State Trooper West verkörperte die Gegenseite; er gehörte zu den US-Soldaten, die in die unterirdischen Stellungen des Vietcongs eindrangen und sie im erbarmungslosen Kampf Mann gegen Mann räumten.
Auch an der ´Heimatfront´ ist der Krieg keineswegs vergessen. In Oscala ist niemals eine Vietcong-Bombe gefallen. Trotzdem hegen die Bürger Vorurteile gegen Loi Kelly, die in der aktuellen Krise durchbrechen und zur Verschärfung der Situation beitragen: Der Mensch schafft sich seine Hölle, ohne dass Teufel aus Raum & Zeit ihm zur Hilfe kommen müssen.
Ohnehin wird Solidarität von Strieber kritisch beurteilt. Da gibt es den Pfarrer, der zum Gebet statt zu Flucht oder Gegenwehr rät. Auf der anderen Seite stehen die Rednecks des Ortes, die auf kaliberstarke Waffen setzen. Soll man sich verbarrikadieren, soll man flüchten, soll man kämpfen? Strieber spielt sämtliche ´Alternativen´ durch und kommt zu dem (ketzerischen) Schluss, dass es tatsächlich Gegner gibt, gegen die weder Gott noch Gewalt helfen.
Worte für das Unaussprechliche
Dem lässt der Verfasser zum einen eindeutige Taten bzw. Worte folgen, während er auf der Suche nach einer plausiblen Auflösung ins Schwurbeln gerät. Striebers Einfallsreichtum, mit dem er die zunehmend und buchstäblich miteinander verschmelzende Vergangenheit und Gegenwart beschreibt, ist beachtlich. Zudem ist er in der Lage, den Horror um einen zu Lovecrafts Zeiten quasi undenkbaren Faktor zu bereichern: Die böse Macht erkennt, dass man Mäuse mit Speck und Menschen mit Sex fängt. Deshalb mischt sie ihren Sirenengesängen entsprechende Reize bei und erzielt damit beträchtliche Erfolge.
Wenn es zur endgültigen Konfrontation mit dem nun maskenlosen Gegner kommt, wird es metaphysisch - oder rührselig; es hängt vom Standpunkt des Lesers ab. Die Kraft des neugeborenen, ´reinen´ Menschen bringt den Tunnel zwischen den Zeiten zum Einsturz. Strieber beschränkt sich auf entsprechende Beschreibungen und drückt sich wohlweislich um die Frage nach der Logik dieses Prozederes: Die existiert nämlich nicht. Vorsichtshalber schließt sich doch eine profane Flucht durch Gänge und Fahrstuhlschächte an, die fatal an entsprechende Szenen aus "Aliens" (1986) erinnert.
Der kritische, das Happy-End wie bereits erwähnt in Frage stellende Schluss versöhnt mit diesem etwas missratenen Versuch einer etwas anderen Auflösung oder einem etwas zu sehr in die Länge gezogenen Mittelteil. Wenn "Die Heimsuchung" Fahrt aufgenommen hat, ist sie nicht mehr zu bremsen. Während andere Strieber-Romane durch die Epiphanie des Verfassers, der sich von Aliens entführt und indoktriniert wähnt, deutlich leiden, kann "Die Heimsuchung" ohne gravierende Einschränkungen empfohlen werden.
(Dr. Michael Drewniok, Juli 2012)
Whitley Strieber, Festa
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