Wunderbare wandelbare Warenwelt
Babys sind komische Wesen. Liegen rum, krabbeln später, schreien, lachen und brabbeln unverständliches Zeug. Glücklicherweise gibt es "KidLuv", jene Firma, die die sensationellen "I Can Speak!TM"-Masken erfunden hat, welche die unartikulierten Geräusche in klare, einfache Sätze (ver)formt. Kein glucksendes Plappern mehr, sondern ein verständliches: "Ach Mama, heute ist ein schöner Tag!" Dumm nur, dass die Masken jedes Gesicht so aussehen lassen wie das eines Großelternteils. Nicht unbedingt der eigenen. Aber KidLuv arbeitet daran, individuelle Züge stärker zu betonen. Versichert der beflissene Kundenbetreuer, der natürlich vom Produkt vollkommen überzeugt ist und nicht wegen ausstehender Provisionen und hohen Erfolgsdrucks kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht.
Gleich der Einstieg zeigt, worum es George Saunders geht: Das Leben in einer konsumorientierten Produktwelt, in der die Erzeugnisse längst über ihre Erschaffer triumphiert haben. Jugendliche, die als Produkttester zu behüteten Medienstars werden, dabei ihre Individualität verlieren. Eingepflanzte Erinnerungen, ein Leben in Wohlstand und immer neuen Farben, Geräuschen, Geschmacksvariationen. Der Ausstieg: Absturz ins Elend, Sprachverlust, ein kompletter Neustart - möglicherweise in geistiger Umnachtung.
Saunders beschreibt dies mit dem Erstaunen und tiefsitzenden Erschrecken des klug beobachtenden Autors, er dreht die Realitätsschraube nur einen Hauch Richtung Science Fiction/ Phantastik, verzichtet auf spektakuläre Schocks und überbordenden Klamauk. Seine Geschichten nähern sich auf leisen Sohlen, hinterhältiger und durch den Verzicht auf allzu spektakuläres Brimborium umso eindrücklicher. Er erlaubt sich den Luxus auf abschließende Pointen und Happy Endings zu verzichten, entwirft gelegentlich Tableaus, die zwischen purem Surrealismus und absurdem Theater pendeln. "Brad Carringan, Amerikaner" ist eine Abrechnung mit einer sich ständig verändernden Fernsehwelt, in der Maiskolben im Wohnzimmer wachsen, zerstückelte Leichen im Vorgarten Konversation betreiben, und der Serientod wörtlich zu verstehen ist.
Die vielleicht stärksten Geschichten aus "I Can Speak!TM" sind jene, bei denen Saunders nahezu vollständig auf phantastische Elemente verzichtet. Wie das Selbstjustizpsychogramm vorm Hintergrund einer möglichen Seuchenbedrohung ("Die rote Schleife" und als Variante eines ähnlichen Phänomens "Adams"), die lakonische, klinische Studie "93390" über das Leiden von Versuchstieren, aus der Sicht eines emotionslos beobachtenden Wissenschaftlers, oder das liebevolle, düster-poetische "Die Böhmischen", in dem auf knapp 15 Seiten Biographien entworfen, aufgebaut und gebrochen werden. Eine Skizze über den Unterschied zwischen Wahrnehmung, (Selbst)darstellung und Wirklichkeit. In der Nachfolge der besten Stories Ray Bradburys, mit einer Spur Mark Twain.
Die wunderbare, wunschlos glücklich machende Warenwelt, Menschen die sich für redlich halten und aus Wut, Vorurteilen oder Trauer zu Mördern werden, sprechende Eisbären und tanzende Pinguine, gefangen in einer Wiederholungs-Endlosschleife, grüne Symbole, die sich für Gott ausgeben und der Versuch die göttlichen Limitationen, Betrugsversuche und Gesetze zu überwinden. Schließlich will man frei sein bei der Wahl des geliebten Schokoriegels. George Saunders erzählt davon und noch mehr. Er schickt seine Figuren auf die Suche nach Freiheit und Lebenserfüllung. Manchmal finden sie etwas, manchmal verschwinden sie einfach und oft ist das Gesucht- und Gefundene weit entfernt vom Gewünschten.
"Wer sind eigentlich diese Elemente, und wie kommt es, dass sie unsere Lebensweise so lautstark kritisieren? Nehmen wir sie unter die Lupe, so sehen wir: Außenseiter, chronische Querulanten, Personen, die unfähig sind, in einem bestens lebensfähigen, wahrlich großzügigen System zu gedeihen, in einem System, das allen anderen uns bekannten Formen der Leistungsgestaltung und Wertschaffung haushoch überlegen ist." Bernard "Ed" Alton, Aufgabenkatalog für die Neue Nation
Keine Sätze, Geschichten, die dem Leser mit dem Vorschlaghammer um die Ohren gehauen werden, sondern eher mit einer feinen, mitunter psychedelisch herumwirbelnden Feder herausgekitzelt. Solange bis es schmerzt.
(Jochen König, April 2012)
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