Unkonventionelle Fantasy
In den Tiefen eines ausgehöhlten Hügels ruhen die Geschichte und das Wissen der Menschheit in der Obhut der Bruderschaft der Archivare, ansonsten hat der Ort Corpus Mortui wenig zu bieten. Cornelis hat mit sechzehn Jahren seine Zeit als Novize der Bruderschaft gerade beendet, als der aus vielen Abenteuergeschichten berühmte Meister Aki auftaucht.
Während der Abschlussveranstaltung für die Novizen verkündet Professor Aulus den Zweck dieses Besuchs. Sör William Aki Ignatius da Silva ist vom Obersten Rat beauftragt worden, das Geheimnis des To mega Therions zu lüften. Dafür sucht er einen Schüler, der ihn unterstützen soll und ausgerechnet Cornelis wird erwählt.
Das To mega Therion, wie die alten Griechen das große Tier nannten, wurde vor tausend Jahren auf die Menschheit losgelassen, um sie für ihre Hybris, sie käme ohne Gott aus, zu bestrafen. Bei der Großen Katastrophe kam fast die gesamte Zivilisation um. So sehen es jedenfalls die Traditionalisten innerhalb der Bruderschaft, so steht es in allen Überlieferungen. Aber eine wachsende Anzahl von Gelehrten hängt einer anderen Theorie an. Sie glauben an die Branentheorie, wonach ein kosmischer Tsunami der Verursacher war. Meister Aki und sein Schüler sollen nun die wahren Hintergründe der Katastrophe aufdecken und so die Spaltung der Bruderschaft verhindern.
Ein wenig bange verabschiedet Cornelis sich von Freunden, als er mit Meister Aki zusammen den Bus besteigt, aber eigentlich überwiegt die Neugier auf die große, weite Welt. Allerdings ahnt er nicht, dass seine Rolle bei diesem Auftrag weit größer ist, denn er trägt den genetischen Schlüssel zur Errettung der Welt in sich. Die traute Zweisamkeit von Cornelis und Aki wird bald durch eine junge Frau gestört. Raggah, die einen seltenen Steppogo, einen Talisman der Espermane, bei sich trägt, drängt sich auf rabiate Art und Weise in die Gemeinschaft von Meister und Schüler. Derweil wurde hoch im Norden, in der Feste Kautoganka, ein Metamorph beauftragt, einen Dieb zu finden, ihn zu töten und das Eigentum dem Herrn der Feste zurückzubringen. Sein Weg führt in auf die Straße nach Corpus Mortui.
Weltenbrand
Sean O'Connell ist mit dem ersten Teil seiner Tir na n'Og-Trilogie ein Buch gelungen, das mit Erfindungsreichtum und Mut zum Mischen von Elementen verschiedener Genres aufwartet, und dem Leser dadurch einen etwas anderen Fantasyroman präsentiert als sonst üblich. Der Auserwählte verbindet Science-Fiction, Steampunk, Fantasy und Abenteuerroman. Die Stärke des Buches ist eindeutig der unkonventionelle Weltenbau. Technik in ganz unterschiedlichen Stadien, wie zum Beispiel der Linienbus, der ein riesiges Raupenfahrzeug mit einem Dampfkessel ist, oder Fusionsreaktoren und gleichzeitig hölzerne Rolltreppen in der Station Sonnenschein, Datenbänder bei den Archivaren und Kleincomputer bei den Waldkindern. Die Wissenschaft pendelt zwischen Aberglauben und Stringtheorie. Das Land zwischen Kautoganka und dem Südmeer ist eine bunte Welt, nicht nur bevölkert mit Menschen sondern auch Mensch-Tier-Hybriden, Gestaltwandlern, gottgleichen unsterblichen Älteren, schwarzen Puppen, die den Verstand ihrer Träger manipulieren oder Spinnenköpflern, die Raum und Zeit manipulieren. Dabei bedient Sean O'Connell sich ungeniert bei allen möglichen europäischen Mythen, zieht die Bibel hinzu und macht deutliche Anleihen bei Klassikern der Fantasyliteratur.
Das Tempo der Handlung ist hoch, wie in einem Action-Film. Da breitet sich vor dem Leser ein Teppich in kräftigen Farben aus, auf Zwischentöne oder sanfte Farbnuancen, um im Bild zu bleiben, wird verzichtet. Für meinen Geschmack schreitet die Handlung zu zügig voran, denn man wird Schlag auf Schlag mit neuen Aspekten eingedeckt, die sich nicht aus dem Aufbau der Handlung ergeben, sondern einfach als Informationshappen eingereicht werden, die man zu schlucken hat. Allerdings sind das teilweise so interessante Aspekte, die auf überraschende Lösungen hindeuten, dass man getrost damit leben kann.
Der wundersame Ledermantel
Ärgerlicher empfinde ich kleine Details, die einfach nur unlogisch oder unglaubwürdig erscheinen. Zum Beispiel, wenn Meister Aki, Cornelis und Raggah kilometerweit durch den Hauptabwasserkanal schwimmen, dann 10 Meter tief einen Wasserfall in einen See hinabstürzen, ans Ufer schwimmen und Meister Aki anscheinend bei dieser strapaziösen Aktion seinen schweren Ledermantel getragen hat. Dieser Mantel muss ein Wunderding sein, so ähnlich wie Hermines Tasche, denn Aki holt später aus diversen Innentaschen des Mantels völlig unbeschädigt ein Reisetagebuch und ein Foto heraus. Meister Aki wird als weißhaariger, alter Mann beschrieben, aber er ist fit wie Chuck Norris. Vielleicht ergibt sich in den nächsten Büchern eine Erklärung dafür.
Oder das Archiv. Es wird behauptet, dass das Archiv im Weinberg von Corpus Mortui ein Geheimnis sei. Wie kann man einen Weinberg nach und nach aushöhlen, und dabei ´gigantische Stahlträger´ und ´tausende Tonnen Spritzbeton´ einbringen, ohne dass das in so einem kleinen Dorf auffällt? Das erscheint mir unlogisch. Wenn die untersten Ebenen die ältesten sind, dann mussten die gleich zu Beginn ganz tief gebohrt haben und sich dann nach und nach weiter nach oben ausgebreitet haben. Wo sind die mit dem ganzen Abraum hin, wenn alles heimlich geschehen musste? Vielleicht mangelt es mir nur an Vorstellungsvermögen.
Heldenreise
Das Grundgerüst, ein junger Held zieht in die Welt hinaus, erlebt verschiedene Abenteuer und erfährt so nebenbei, dass er die Welt retten soll, ist natürlich nichts Neues. Auch die Kombination, der weise Mentor und sein unbedarfter Schüler, ist ein klassischer Archetypus im Fantasy-Bereich. Leider bleiben die Charaktere im Archetypenstadium stecken, zeigen keine differenzierten Persönlichkeitsmerkmale, sondern wirken holzschnittartig, und das ist schade. Cornelis bleibt bis zum Schluss der unbedarfte, teilweise sogar weinerliche Junge, der sich schieben lässt und nicht von sich aus handelt, er ist ein naives Werkzeug im Ränkespiel der Mächtigen. Meister Aki ist der integre, weise Überheld, und Raggah hat die Rolle des bösen, aber im Kern eigentlich guten, Mädchens. Kratzbürstig, großmäulig und kämpferisch schlägt sie sich durchs Leben.
Gelungene Perspektivwechsel erhöhen in meinen Augen die Spannung eines Romans. Leider gibt es einige Stellen, wo der Autor sich anscheinend nicht entscheiden konnte, ob er einen allwissenden Erzähler benutzt oder ob aus der Sicht der jeweiligen Figur beschrieben wird. Mich hat es immer irritiert, wenn eine Szene zum Beispiel gerade aus Cornelis Sicht geschildert wird, und dann plötzlich Sachen angeführt werden, die er definitiv zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte.
Fazit: Die Idee, moderne Theorien bezüglich Paralleluniversen und der Entstehung unseres Universums in einem Fantasyroman zu verwenden, hat mich begeistert. Das weicht erfreulich ab von den üblichen Pfaden. Wer schnelle, aktionsreiche und unkonventionelle Fantasy mag, nicht so viel wert auf facettenreiche Charaktere legt und über kleine Ungereimtheiten hinwegsieht, der wird mit Tir na n'Og ein spannendes Lesefutter finden.
(Anja Helmers, März 2012)
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