Das dritte Buch des Horrors
- Heyne
- Erschienen: Januar 1992
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Auch Grusel-Zeiten ändern sich
Zehn beispielhafte Kurzgeschichten verdeutlichen den Wandel, den die (europäische) unheimliche Literatur in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfuhr:
- W. W. Jacobs: Die Affenpfote (The Monkey´s Paw, 1902), S. 11-24: Drei Wünsche erfüllt das magische Artefakt aus dem Morgenland, doch es arbeitet wortgenau, was bei schwammiger Formulierung grässliche Folgen haben kann.
- Hanns Heinz Ewers: Die Topharbraut (1903), S. 25-58: Ein Schriftsteller lernt einen Privatgelehrten kennen, der sich als waschechter "mad scientist" mit ausgeprägtem Pharaonenwahn entpuppt.
- William Hope Hodgson: Tropischer Horror (A Tropical Horror, 1905), S. 59-72: Aus den Tiefen des Meeres schwingt sich das personifizierte Grauen an Bord des kleinen Schiffes, um dort sein Schreckensregiment zu errichten.
- Algernon Blackwood: Die Weiden (The Willows, 1907), S. 73-144: Zwei Abenteurer verschlägt es während einer Kanufahrt auf eine einsame Insel, die eine Art Relaisstation zwischen dieser und einer anderen, feindseligen Welt darstellt.
- Georg von der Gabelentz: Der gelbe Schädel (1909), S. 145-200: Aus einer verfallenen Gruft nimmt ein junger Mann das Haupt des Magiers Cagliostro als makabres Souvenir mit nach Haus, was die zu erwartenden Folgen zeitigt.
- M. R. James: Das Chorgestühl zu Barchester (The Stalls of Barchester Cathedral, 1911), S. 201-224: Der Dechant hat seinen allzu langlebigen Amtsvorgänger beseitigt, doch was in dieser Welt unbemerkt blieb, setzt im Jenseits unangenehme Rachegeister in Marsch.
- E. F. Benson: Wie die Angst aus der langen Galerie verschwand (How Fear Departed from the Long Gallery, 1912), S. 225-244: Grausam sicherte sich einst ein verschlagener Landjunker das Familienerbe, aber die Rache kam und verschont auch die Nachfahren nicht.
- Karl Heinz Strobl: Das Grabmal auf dem Père Lachaise (1914), S. 245-278: Die verstorbene Gräfin vermachte demjenigen ein Vermögen, der ein Jahr in ihrem Mausoleum haust; ein armer Gelehrter schlägt ein und lernt seine Gönnerin persönlich kennen.
- Gustav Meyrink: Meister Leonard (1916): Der Nachfahre eines Geschlechts von Tempelrittern wehrt sich erbittert gegen den Familienfluch, der ihn immer wieder einholt.
- Sax Rohmer: Die flüsternde Mumie (The Whispering Mummy, 1918): In Kairo lasse man die Finger von Frauen, deren Verlobte als mächtige Zaubermeister bekannt und gefürchtet sind.
- Anhang I: Zur weiteren Lektüre empfohlen
- Anhang II: Rechte- und Quellennachweis
Eine neue, faszinierende, bedrohliche Ära
Dies ist Teil 3 einer vierbändigen "Geschichte der unheimlichen Literatur", die Anfang der 1990er Jahres unter der Herausgeberschaft von Joachim Körber erschien. Den ehrgeizigen Obertitel sollte man am besten gleich wieder vergessen, da er den Anschein eines literaturwissenschaftlichen Anspruches erwecken könnte, der sich im hellen Licht der Kritikersonne rasch in Nichts auflöst. Aus dem kargen Vorwort lernt der Wissbegierige nur ansatzweise etwas über das Wesen des geschriebenen Horrors. Dies sollte man dem Herausgeber nachsehen, denn sein Plan ist es ohnehin, besagte Geschichte "in meisterhaften Erzählungen" nachzuzeichnen, was ihm auf jeden Fall gelingt!
Dieser Band versammelt Erzählungen aus dem Zeitraum 1900 bis 1920; eine scheinbar willkürliche Einteilung, die jedoch durch historische Realitäten gestützt werden kann: Der Tod der Königin Victoria 1901 leitete das Ende einer Ära ein - ein Prozess, der mit dem Ende des I. Weltkriegs 1918 abgeschlossen war. In Europa verschwanden die seit Jahrhunderten prägenden Monarchien oder verloren ihre reale Macht, die alten Gesellschaftsordnungen gerieten in Umbruch. Die Naturwissenschaften feierten Triumphe, die Lösung noch der letzten Rätsel schien zum Greifen nahe. Das menschliche Gehirn selbst wurde entschlüsselt, die Wunder der Psyche wurden gedeutet.
Diese hier nur skizzierten historischen Prozesse lassen sich - mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung - im "Dritten Buch des Horrors" nachvollziehen. William Wymark Jacobs (1863-1943) markiert mit "Die Affenpfote" den Auftakt. Die viktorianische Gespenstergeschichte, die wie kaum eine andere Epoche die unheimliche Literatur prägte, zeigt sich mit ihm noch auf ihrem Höhepunkt. Auf der einen Seite ist "Die Affenpfote" zu Recht ein Klassiker des Genres, der meisterhaft eine Atmosphäre des stetig wachsenden Grauens beschwört. Andererseits konserviert Jacobs ein überkommenes Weltbild, in dem Systemkonformität und Schicksalsergebenheit Gebote sind und Verstöße gegen die göttliche Ordnung umgehend mit schrecklichen Strafen geahndet werden. Diese Haltung war typisch und sollte es bleiben; noch heute erscheint es den meisten Gruselfreunden völlig richtig, dass Michael Myers die allzu lebenslustigen Teenies schlachtet und die Langweiler verschont.
Das Spiel mit der Form
Montague Rhodes James (1862-1936) scheint mit "Das Chorgestühl zu Barchester" zunächst ins selbe Horn zu stoßen. In der Tat gilt er Erzähler klassischer englischer Gespenstergeschichten par excellence; oft sogar als ihr König. James' Gespenster sind immer schlecht gelaunt und bösartig, und ihr Zorn trifft jeden, der ihn herausfordert. Eine persönliche Schuld, wie sie der allzu ehrgeizige Dechant dieser Geschichte auf sich geladen hat, ist dabei nicht zwangsläufig der Auslöser. Das erklärt den Erfolg der James-Geschichten, deren Popularität im Heimatland des Verfassers bis heute ungebrochen andauert: Sie sind nicht verankert in ihrer Entstehungszeit, sondern Kunst-Werke im eigentlichen Sinn. James hat sie zum Zeitvertreib und unter Anwendung handwerklicher Regeln und Nutzung seines immensen historischen Fachwissens geschrieben. So entkamen sie dem Zeitgeist; ohne echtes Herz vielleicht, wie die James-Kritiker schimpfen, aber vergoldet durch Nostalgie und einfach nur erschreckend unterhaltsam.
Auch Edward Frederic Benson (1867-1940) haut zunächst in dieselbe Kerbe. "Wie die Angst aus der langen Galerie verschwand" ist viktorianischer Grusel als Maßarbeit. Noch meisterlicher als James präsentiert ihn Benson dabei im Verbund mit knochentrockenem, britischem, schwarzem Humor und erinnert damit daran, dass Schreien und Lachen sich nicht so fremd sind wie man gemeinhin annimmt. Aber Benson ist auch barmherziger als James: Das Grauen der langen Galerie wird gütlich und ohne weitere Opfer beendet - und siehe da: Es funktioniert!
Wissenschaft und Mystik des frühen 20. Jahrhunderts
William Hope Hodgson (1877-1918) ist der (hierzulande kaum bekannte) Meister der Seespuk-Geschichte. Die Amok laufende, vor geiler Fruchtbarkeit berstende, Schleim und Schimmel über ihre unglücklichen oder allzu neugierigen Besucher ergießende, aber nie willentlich bösartige Natur, die den Gentech-Horror des späten 20. Jahrhunderts bereits vorweg nimmt, ist Hodgsons Passion. "Tropischer Horror" ist keine seiner besten Geschichten, zwar sehr effizient aber ein wenig grobschlächtig und ganz sicher nicht raffiniert.
Ganz anders dagegen Algernon Blackwood (1869-1951) mit "Die Weiden", eine der besten unheimlichen Novellen aller Zeiten. Bei aller Hingabe an die Moderne war das frühe 20. Jahrhundert auch eine Hochzeit okkulter Moden. Wenn sich die Realität durch Naturgesetze erklären und bannen ließ, dann war dies vielleicht auch mit bisher unsichtbaren, weil jenseitigen oder x-dimensionalen Welten möglich.
Blackwood mag nicht an eine quasi unbelebte, starren Regeln gehorchende Natur glauben. Er bevölkert sie mit Geistwesen, die seit Urzeiten neben der Menschenwelt existieren. Kontakte kommen eher zufällig zustande und enden in der Regel katastrophal, aber sie haben ihren Platz in der natürlichen Ordnung der Dinge, die sich eben doch nicht immer rational erfassen lassen.
Der deutsche Horror
Erfreulicherweise nimmt Körber auch vier deutschsprachige Gruselgeschichten auf. Im Zeitalter des Jason-Dark- und Hohlbein-Dumpf-Horrors ist es in Vergessenheit geraten, aber bis die Nazis dem 1933 ein Ende machten, gab es eine deutsche Phantastik, die sich vor dem britischen oder jedem anderen Grusel nicht verstecken musste. Hanns Heinz Ewers (1871-1943) liefert mit "Die Topharbraut" eine grundsolide Schauermär ab. Georg von der Gabelentz (1868-1940) kann mit "Der gelbe Schädel" nicht mithalten; der Horror wird hier eher behauptet als beschworen, und das mit ziemlich angestaubten literarischen Tricks.
Karl Heinz Strobl (1877-1946) glänzt mit "Das Grabmal auf dem Père Lachaise", einer straff komponierten, effektvollen Vampir-Story, und Gustav Meyrink (1868-1932) beeindruckt durch "Meister Leonard". Obwohl die phantastischen Elemente hier aufgesetzt wirken, kann die meisterhafte Darstellung der manischen Mutter wirklich erschrecken.
Sax Rohmer (eigentlich Arthur Henry Ward, 1883-1959) ist der geistige Vater des diabolischen Dr. Fu-Manchu. Dieser stellt seinen Schöpfer als moderner Mythos längst in den Schatten und lässt dadurch vergessen, dass Rohmer kein wirklich guter Schriftsteller war. "Die flüsternde Mumie" ist daher nicht nur des Themas wegen ziemlich angestaubt und keine glückliche Wahl als Ausklang dieser Sammlung - es sei denn, Körber wollte eine Überleitung finden zum sich nun schon abzeichnenden Zeitalter der "Pulp"-Magazine, die in den 1920er Jahren ihren Siegeszug antraten.
Abgerundet wird diese erfreuliche Sammlung wieder durch ausführliche Lesetipps, die das Bild vom zeitgenössischen Horror vertiefen - oder einfach vorzüglich überhalten!
(Dr. Michael Drewniok, März 2012)
Joachim Körber, Heyne
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