Das zweite Buch des Horrors
- Heyne
- Erschienen: Januar 1991
- 0
Über die Schwelle hinaus in neue Gefilde des Grauens
Zehn Kurzgeschichten aus den Jahren zwischen 1920 und 1940, in denen der klassischen Gespenstergeschichte das "kosmische Grauen" des H. P. Lovecraft mit seinen diffusen aber gemeingefährlichen Kreaturen aus Zeit und Raum entsprang:
- Stefan Grabinski: Der Blick (Spojrzeme, 1922), S. 11-28: Dass jene Theorie zutrifft, nach der diese Welt nur eine Illusion ist, weiß Dr. Odonicz jetzt, aber die grausige Wahrheit kann er niemandem mehr mitteilen.
- Jean Ray: Die weiße Bestie (La bete blanche, 1925), S. 29-38: Ein Einsiedler entdeckt in den Wäldern der Ardennen eine tiefe Höhle, darin eine Goldader - und einen missgestimmten Überlebenden aus der Urzeit.
- Seabury Quinn: Der Poltergeist (The Poltergeist, 1927), S. 39-72: Jules de Grandin, französischer Meisterdetektiv des Okkulten, rettet eine schöne Maid aus den Klauen eines geilen Gespenstes.
- Howard Phillips Lovecraft: Cthulhus Ruf (The Call of Cthulhu, 1928), S. 73-120: Ein Forscher entdeckt Spuren, die auf die Existenz eines Kultes hinweisen, der recht unangenehme ´Gottheiten´ in diese Welt bringen will.
- Frank Belknap Long: Die Dämonen von Tindalos (The Hounds of Tindalos, 1929), S. 121-144: Allzu erfolgreich ist ein Forscher, der mit Hilfe einer Droge in die Zeit zurückreist und herausfindet, wer tatsächlich hinter dem biblischen Sündenfall steckt.
- Lady Cynthia Asquith: Gebe Gott, dass sie in Frieden ruht (God Grante That She Lye Still, 1931), S. 145-196: Ein Unfall riss die junge Frau einst in den Tod; nun drängt sie zurück ins Leben und kämpft mit einer Nachfahrin um deren Körper.
- David H. Keller: Das Ding im Keller (The Thing in the Cellar, 1932), S. 197-208: Der kleine Junge fürchtet sich vor dem dunklen Keller, die Eltern beschließen eine Schocktherapie; die Folgen sind in der Tat spektakulär.
- Clark Ashton Smith: Teichlandschaft mit Erlen und Weide (Genius Loci, 1933), S. 209-240: Ein böser Geist nistet an einem verwunschenen Ort, wo er auf unvorsichtige Besucher lauert, um sie ins Verderben zu locken.
- Robert Bloch: Das Grauen von den Sternen (The Shambler from the Stars, 1935), S. 241-258: Der Zufallsfund eines Zauberbuches verschafft dem Erforscher des Okkulten ersehnte Gewissheiten - und einen grausigen Besucher.
- August Derleth: Jenseits der Schwelle (Beyond the Threshold, 1941), S. 259-302: In den finsteren Wäldern Neuenglands öffnet ein fanatischer Forscher das Tor zu einer Welt, die von bösen Kreaturen aus der Urzeit des Universums bevölkert wird.
- Anhang I: Zur weiteren Lektüre empfohlen, S. 303-314
- Anhang II: Quellen- und Rechtenachweis, S. 315-317
Eine Welt in Bewegung
Die 1920er Jahre waren eine Zeit des Umbruchs. Der I. Weltkrieg hatte in Europa die politische Landkarte verändert und gewaltige soziale Umbrüche in Gang gesetzt. Gleichzeitig machten die Naturwissenschaften enorme Fortschritte. Besonders die Physiker drangen in Sphären vor, die sich von den meisten Menschen nur noch ansatzweise begreifen ließen, und deuteten die Existenz von Welten und Dimensionen an, die mit dem Begriff "exotisch" bei weitem nicht mehr zu beschreiben waren.
Kunst und Literatur blieben von diesen Entwicklungen nicht unberührt. Im phantastischen Genre begann das Ende der klassischen Gespenstergeschichte. Natürlich verschwand sie weder abrupt noch vollständig. In dieser Sammlung treffen wir sie bei Seabury Quinn (1889-1969), Lady Cynthia Asquith (1887-1960), David Henry Keller (1880-1966) und Clark Ashton Smith (1893-1961). Dabei deckt sie das gesamte Spektrum von trivial (Quinn) über psychologisch (Asquith) bis atmosphärisch (Smith) ab.
Eindrucksvoll ragt aus diesem Quartett die Story von Keller heraus. Dieser recht unbekannte, nicht besonders produktive Autor legt eine Geschichte vor, die ihrer Zeit weit voraus ist. Fast dokumentarisch und mit knochentrockenem Humor erzählt er eine bitterböse Gespenstergeschichte, dessen spukhaften Bösewicht wir kein einziges Mal zu sehen bekommen. Jeder Satz, jedes Wort steht im Dienst der dadurch umso nachhaltiger wirkenden Geschichte.
Die Natur als Wiege des Grauens
Jean Ray (d. i. Raymondus Jean Marie de Kremer, 1887-1964) baut eine Brücke zwischen dem ´alten´ und dem ´neuen´ Horror. Seine "Weiße Bestie" ist kein übernatürlicher Spuk, sondern ein der Forschung fremdes aber sehr lebendiges Wesen, das dort, wohin der neugierige Zeitgenosse seine Nase steckt, nicht einmal lauert, sondern einfach nur sein Territorium gegen Fremdlinge verteidigt.
Dieses Konzept wurde Ende der 1920er Jahre von Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) weiter entwickelt und zur Vollendung gebracht. "Cthulhus Ruf" steht am Anfang einer neuen Ära. Lovecrafts böse Geißeln leben in einer Art Parallelwelt, aber sie sind und waren durchaus lebendig. Damit verknüpfen die Cthulhu-Geschichten den Horror mit der Science Fiction.
Eine hochinteressante Fußnote stellt Stefan Grabinskis (1887-1936) dar. "Der Blick" belegt, dass Lovecraft weder der erste noch der einzige Autor war, der das Konzept des "kosmischen" Horrors erfand. Grabinski bedient sich seiner bereits 1922 völlig unabhängig von der US-amerikanischen Pulp-Szene und mit einer Souveränität, die belegt, dass die Zeit allgemein reif war für solche Veränderungen.
Schnell & grell: Pulp-Horror
Die Phantastik hatte just ein neues Forum bekommen: Mitte der 1920er Jahre kamen die "Pulps" auf, billige, auf holzhaltiges Papier gedruckte Magazine, für die unzählige Autoren Kurzgeschichten und Fortsetzungsromane schrieben. Die Pulps hatten Erfolg und prägten die Szene für fast zwei Jahrzehnte. Wie Pilze schossen sie aus dem Boden. Die Leser waren jung und von der Zukunft fasziniert. Grusel aus der guten, alten Zeit stand weniger hoch im Kurs. Schneller und härter (und oft genug auch flacher) wurde die Gangart. Bewährte Ideen wurden gern kopiert oder variiert.
Frank Belknap Long (1903-1994), ein Vollprofi der Pulp-Epoche, beweist es mit "Die Dämonen von Tindalos", eine spannende, routiniert umgesetzte Hommage an H. P. Lovecraft, aber kaum eine originelle Geschichte, die Lovecraft nicht gefallen haben dürfte, weil Long etwas tut, das der Einsiedler aus Providence stets vermied: Er verquickt den Cthulhu-Kosmos mit der christlichen Mythologie und weist dem tintenfischköpfigen Unhold und seinen nicht minder unfreundlichen Genossen die Rolle schnöder Dämonen zu.
Robert Bloch (1917-1994) macht es mit "Das Grauen von den Sternen" geschickter. Trotz seiner Jugend - er war 1935 gerade 18 Jahre alt - kopiert er Lovecraft (der den jungen Kollegen schätzte und förderte) nicht einfach, sondern bringt eigene Ideen in den Cthulhu-Mythos ein. Dazu gehört "De Vermis Mysteriis", das fiktive Zauberbuch des Erzmagiers Ludvig Prinn, das der Cthulhu-Jünger heute ebenso eifrig zitiert wie Lovecrafts "Necronomicon".
Lovecraft tritt übrigens persönlich in Blochs Geschichte auf. Der Schriftsteller, der ein ereignisarmes Leben führte, wird hier durch ein Ende geadelt, wie es einem Sucher nach der Realität des Grauens zukommt: Er stirbt in den Klauen einer wirklich fiesen Kreatur, was wiederum ein Insider-Gag ist, da es Abdul Alhazred, den Verfasser des "Necronomicons", genauso erwischt hatte.
Ein Schritt in die falsche Richtung
August Derleth (1909-1971) gilt als Lovecrafts treuester Jünger, Diener, Nachfolger und Bewahrer. Unermüdlich hat er nach 1937 dessen Werk an die Öffentlichkeit gebracht. Dass Lovecraft den verdienten Ruhm der Gegenwart genießt, verdankt er vor allem Derleth.
Allerdings hat sich Derleth Freiheiten herausgenommen, die sein Meister kaum gutgeheißen hätte. Dazu gehört vor allem Derleths Drang, das kosmische Grauen Lovecrafts zu ´ordnen´, d. h. Cthulhu und die Seinen in einen dunklen Götterhimmel einzupassen. Doch für Lovecraft gehört das Chaos zum Konzept. Verstehen bedeutet auch, die Furcht zu verlieren, was kaum im Sinne einer Gruselgeschichte sein kann.
Fleißig bastelt Derleth an seiner ´verbesserten´ Lovecraft-Vision. Lücken im Konzept werden mit eigenen Kreationen gefüllt. Cthulhu wird zu einer Art Elementargeist unter vielen anderen Kreaturen, deren Namen schwierig zu merken sind. Wie man dies noch weiter bzw. zu weit treiben kann, bewies Derleth 1945 mit "The Lurker at the Threshold" (dt. "Das Grauen vor der Tür"/"Das Tor des Verderbens"), einem Roman, der unzweifelhaft eine Erweiterung aber keine Verbesserung von "Jenseits der Schwelle" darstellt, weil sich böse Götter aus dem All quasi gegenseitig auf die Füße treten.
(Dr. Michael Drewniok, Februar 2012)
Joachim Körber, Heyne
Deine Meinung zu »Das zweite Buch des Horrors«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!