Im tiefen Wald
- Heyne
- Erschienen: Januar 2011
- 5
Urlaub im Wald der bösen Bestie
Hutch, Phil, Dom und Luke, vier Engländer in den Dreißigern, wollen auf einer herbstlichen Waldwanderung in Schweden ihre Freundschaft aufleben lassen. Das Wiedersehen steht allerdings unter keinem guten Stern, denn Phil und Dom sind schlecht in Form, und Dom verletzt sich schon am ersten Tag das Knie. Streit bricht aus, der durch private Sorgen geschürt wird. Um die Rückkehr in die Zivilisation zu beschleunigen, beschließt man eine Abkürzung zu nehmen, die jedoch durch einen unzugänglichen Urwald führt. Prompt verlaufen sich die Gefährten.
Selbstverständlich gibt es in dieser Wildnis kein Handynetz. Niemand wird das Quartett vermissen, bis es zu spät ist, zumal sich herausstellt, dass man an einen unheimlichen Ort geraten ist: In einer baufälligen Hütte stoßen die Freunde auf gruselige Relikte. Sie gehen auf einen Kult zurück, der eine böse Waldkreatur verehrt und gefürchtet hat. In einer wenig später entdeckten ´Kirche´ liegen die Gebeine tierischer und menschlicher Opfer.
Während die Anhänger des Kultes inzwischen ausgestorben sind, treibt die Kreatur weiterhin ihr Unwesen. In einer Nacht schnappt sie sich den ersten Wanderer, dessen verstümmelte Leiche die Freunde hoch in einen Baum gezerrt finden: Das Wesen erklärt die Menschenjagd für eröffnet. Es spielt mit der Gruppe, die ohne Orientierung und voller Panik durch den Urwald irrt, und greift nach Belieben an.
Als der letzte Überlebende am Ende seiner Kräfte aus dem Wald taumelt, ist seine Odyssee längst nicht vorüber. Wie es aussieht, ist der seltsame Kult noch nicht gänzlich untergegangen. Weiterhin werden der Kreatur Opfer dargeboten, und dazu greift man gern auf den unerwarteten ´Gast´ zurück ...
Ein Buch wie eine (Mörder-) Muschel
Inhaltlich klassisch aber formal ganz auf der Höhe einer wirtschaftlich schwierigen Gegenwart präsentiert Adam Nevill gleich zwei Horror-Romane zum Preis eines einzigen Buches! Was ein (vermutlich etwas flauer) Scherz ist, hebt die Besonderheit dieses Werkes jedoch hervor: "Im tiefen Wald" zerfällt in zwei voneinander getrennte Handlungsabschnitte, die thematisch eher schlecht als recht zusammenhalten. Allerdings leidet der Unterhaltungswert nur kurz, als Strang 1 endet und mit Strang 2 der Spannung erst neu errichtet werden muss. Wieso Nevill diese Entscheidung traf, bleibt ungeklärt. Das Geschehen hätte die Zweiteilung keineswegs erfordert, eine Verschmelzung wäre möglich gewesen.
So erzählt Nevill zunächst die Geschichte eines Wanderausflugs mit katastrophalen Folgen. Vier Freunde werden nicht nur verfolgt, in Todesangst versetzt und zum Großteil umgebracht, sondern auch psychisch durch die Mangel gedreht. Die wilde Hetzjagd endet nur scheinbar halbwegs glücklich mit dem Entrinnen eines Überlebenden, der nunmehr in die Hände durchgedrehter Mörder, Satanisten und Odin-Anhänger fällt.
Wer meint, dass Nevill bereits alle Tiefen menschlichen Leidens ausgelotet hatte, wird mit diesem zweiten Teil der Geschichte eines Besseren (oder Schlechteren?) belehrt. Der böse Geist des Waldes bleibt erst einmal außen vor und überlässt das Feld denen, die sehr viel nachdrücklicher als jeder Spuk Schmerz und Angst verbreiten können: den Menschen.
Der Mensch und das Monster
"Im tiefen Wald" erinnert durch die Zweiteilung der Handlung an eine Muschel, deren Schalen den eigentlichen Inhalt schützen. In der Tat macht die schier unendliche Kette von Qualen, die Nevill sich mit eindrucksvoller Intensität ausdachte, keineswegs die selbstzweckhafte Bedeutung dieser Geschichte aus. Der berüchtigte "Gore-Bauer" - falls er denn liest bzw. des Lesens mächtig ist - mag sich an den drastischen Effekten delektieren. Sie sind dennoch nur Ausdruck und Folge eines Prozesses, der Nevill wesentlich stärker interessiert: Was geschieht mit dem Durchschnittsmenschen in einer Krisensituation, die keinerlei Flucht gestattet, sondern die Konfrontation mit der Gefahr erzwingt?
Unter dieser Prämisse verwandeln sich die beiden Teilgeschichten in Planspiele. Abschnitt 1 beschäftigt sich mit der Gruppe, die in Not gerät. Nevill konzentriert sich auf die Dynamik zwischen vier Freunden, die begreifen müssen, dass sie einander nie wirklich gekannt haben. Folgerichtig erweisen sich die freundschaftlichen Bande als brüchig. Sie werden geprüft und brechen, werden andererseits aber im Angesicht des Grauens neu geschmiedet und erreichen jene Festigkeit, die zuvor nur Behauptung war.
Der Mensch ist das Monster
Mit Abschnitt 2 wechselt die Perspektive. Nevill gibt dem Schrecken Gesichter und Namen. Mit Loki, Fenris und Surtr, die ihn mit einer uralten Schamanin dem Waldgott opfern wollen, kann der letzte Wanderer reden und diskutieren. Die Ironie liegt darin, dass er sie ebenso wenig erreicht wie das Ding im Wald: Kommunikation ist nicht der Schlüssel zur Verständigung.
Der ´Reifeprozess´ setzt sich fort. Stück für Stück muss der Überlebende elementare oder anerzogene Gefühle wie Rücksicht und Mitleid ablegen. Was in der Horror-Literatur und mehr noch im Film gern als blitzartige Mutation zur Kampfmaschine dargestellt und durchaus zelebriert wird, zeichnet Nevill als langsame und schmerzhafte Abfolge von Erkenntnissen, an dessen Ende der buchstäblich nackte, auf seine Gegner nicht mehr einredende, sondern tötende Urmensch steht.
Rückkehr zum bewährten Horror
Die psychologischen Aspekte der Handlung werden von Nevill klug und wirkungsvoll mit Elementen des klassischen Horrors unterfüttert. "Im tiefen Wald" kann auf Wunsch als reine Gruselgeschichte gelesen werden. Der Verfasser kennt seinen Job, er ist beispielsweise ungemein erfindungsreich in der Gestaltung unheimlicher Landschaften und Orte. Fäulnis und Feuchtigkeit, Verfall und Degeneration fasst Nevill variantenreich in scheinbar einfache Worte, die jedoch das Kino im Kopf des Lesers zuverlässig in Gang setzen und Bilder verursachen, die dem Schrecken einen Rahmen geben. Die einsame, halb verfallene Hütte im Wald wirkt dabei bedrückender als die optisch zweifellos großartige Kulisse der alten, entweihten Kirche und der mit Opferknochen gefüllten Krypta: Die Andeutung ist dem Effekt-Overkill wieder einmal vorzuziehen.
Dies bestätigt der zweite Romanteil, der zwar hochgradig gestörte und erschreckende Menschenfiguren präsentiert, die jedoch ihr Wirken wortreich erklären und sich damit selbst entmystifizieren. Was allerdings in Nevills Absicht liegt, der Loki, Fenris und Surtr als verblendete Fanatiker und letztlich Kriminelle bloßstellt, die sich auf eine Sache eingelassen haben, der sie nicht gewachsen sind und die sie keineswegs kontrollieren. Wirklich einschüchternd gerät ihm dagegen die Figur der namenlosen Schamanin, die kaum ein Wort sagt, alt und schwach ist aber tatsächlich die Fäden in der Hand hält.
Notiz an das Leserhirn ...
Was letztlich im Wald umgeht, lässt Nevill ungeklärt. Die Kreatur offenbart sich nur körperlich, weshalb sie ihre Rätselhaftigkeit behält. Keineswegs steht fest, dass sie ein lebendiges Relikt der nordischen Mythologie ist; diese Bedeutung wird von Loki & Co. auf sie projiziert. Faktisch ist es sowieso gleichgültig. Der Überlebende ist die Hauptfigur dieser Geschichte; er bestreitet sie lückenlos über die gesamte Buchstrecke. Sein Leidens- und Überlebensweg sorgt für die notwendige Erdung, er ist die Identifikationsfigur des Lesers. Als solche führt er durch einen konzeptionell nicht durchweg überzeugenden aber wahrlich höllisch spannenden Horror-Roman!
Mit "Im tiefen Wald" hat Adam Nevill dem (deutschen) Horror-Buchmarkt, der unter dem Ansturm windelweicher Als-ob-Vampire u. a. Jammergestalten ächzt, eine bitter nötige Frischblut-Zufuhr verpasst. Brachialer Grusel mit psychologischem Subtext aber ohne jene blutrünstigen Übertreibungen, die den Splatter leicht in Spott umschlagen lassen: ´Literarisch´ ist das nicht, aber es funktioniert vorzüglich und sorgt dafür, dass der Verfassername nicht auf jene schwarze Liste gerät, die der erfahrene Leser für die Meyers, MacAlisters, Davidsons u. a. Nulpen & Zeitverschwender des Genres reserviert, sondern in dessen Hirn mit einem "Neues-Buch-ebenfalls-lesen"-Link markiert wird.
(Dr. Michael Drewniok, November 2011)
Adam Nevill, Heyne
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