Wir waren außer uns vor Glück

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  • Erschienen: Januar 2011
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Wir waren außer uns vor Glück
Wir waren außer uns vor Glück
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Almut Oetjen
94°1001

Phantastik-Couch Rezension vonSep 2011

Neubestimmung des tätigen Lebens

David Marusek veröffentlicht seit rund zwanzig Jahren Erzählungen. Er arbeitet sehr langsam und schreibt deshalb wenig. Seine Hauszeitschrift ist "Asimov's Science Fiction", einige seiner Erzählungen wurden in Anthologien zweitveröffentlicht. Unter dem Titel "Getting to Know You" wurden 2007 zehn seiner Erzählungen als Buch herausgegeben.

Der Großteil seines Werkes ist bislang nicht in deutscher Übersetzung zugänglich. Gerade haben die Herausgeber Hannes Riffel und Karlheinz Schlögl für den Berliner Verlag Golkonda fünf Erzählungen aus "Getting to Know You" ausgewählt, die eine enge Verbindung zu Maruseks erstem Roman aufweisen, dem 2005 erschienenen "Counting Heads".

Marusek hat den Erzählungsband mit einer Vorbemerkung und die einzelnen Geschichten mit Kommentaren versehen. Die Kommentare geben vor allem einen Einblick in seine Schreibpraxis. Zwar kann jede dieser Geschichten unabhängig gelesen und verstanden werden. Aber indem man sie als Einheit liest, erhalten sie mehr Tiefe und geben einen besseren Einblick in die Welt, die Marusek in ihnen aufbaut und in seinem Romandebüt erweitert.

Maruseks Geschichten sind voller guter Einfälle, mit denen er seine reizvolle Zukunftswelt auslotet. Die fünf Erzählungen behandeln verschiedene Aspekte dieser Welt zu verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlichem Personal.

Die Welt und das Leben als Simulation

Die Erzählung (Novelle), die der deutschen Ausgabe den Titel gibt und den Band einleitet, "Wir waren außer uns vor Glück", spielt in den USA des ausgehenden 21. Jahrhunderts und besteht formal aus drei Kapiteln, inhaltlich aus zwei Teilen. Der erste Teil gibt die Romanze zwischen zwei sehr unterschiedlichen und sehr reichen Individuen wieder. Sam Harger ist Designer, Eleanor Starke eine Geschäftsfrau mit politischen Ambitionen, die irgendwann Gouverneurin wird. Die Menschen in dieser Zeit verfügen über Verfahren, die es ihnen ermöglichen, sich fortlaufend zu verjüngen, allerdings mit abnehmender Intensität - auch sie sind sterblich, wenngleich ihr Tod sehr weit in der Zukunft liegen kann. Verstoßen sie gegen Gesetze oder werden aus anderen Gründen zu unliebsamen Personen, können sie entweder liquidiert oder versengt werden, was bedeutet, dass sie schnell altern und bei Erreichen einer Altersgrenze sterben. Menschen nehmen nur noch Termine körperlich wahr, wenn sie dafür einen besonderen Anlass haben. Ansonsten entsenden sie Hologramme, die auch Echtzeit-Holos sein können. Mitunter ist es auf einer Party so voll, dass die Hologramme sich überlagern und Störungen erzeugen.

Im zweiten Teil wird das luxuriöse Leben dieser Elitefamilie dann auseinander genommen, beginnend mit einer Polizeidrohne, die Sam als gesuchten Terroristen identifiziert. Er wird innerhalb sehr kurzer Zeit vom Privilegierten zum Außenseiter, obwohl sich zeigt, dass er kein Terrorist ist, ändert sich nichts an seiner Lage. Der starke Kontrast, der durch die beiden Teile erzeugt wird, das Vorher und Nachher in einem Leben, das durch Mächtige vernichtet wird, ohne dass der fälschlich Beschuldigte öffentlich entlastet oder in seine ursprüngliche Lage zurückversetzt würde, macht die Wirksamkeit des Textes aus. Das Original wurde 1995 veröffentlicht. Deutsche Leser erinnern sich vielleicht eine handvoll Jahre zurück, an den Fall des Khaled al-Masri. Mit dieser Erinnerung liest sich "Wir waren außer uns vor Glück" noch einmal so eindrücklich. Die Erzählung liefert - auch - das Porträt zweier Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen und um ihre Beziehung kämpfen.

In "Kraut und Kohl" schickt der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika Abzüge seiner selbst als Stellvertreter zu Veranstaltungen und Interviewterminen. Auf diese Weise erzielt er einen wesentlich höheren Grad der Ausbreitung und Durchdringung in der Gesellschaft, als es ihm persönlich je möglich wäre. Als im Senat ein Gesetz zum Fortpflanzungsverbot diskutiert wird, läuft mit seinem Stellvertreter etwas schief, der bigotte und radikale Ansichten äußert, die seinem Original im gemäßigten politischen Klima schaden. Die Untersuchung des Stellvertreters führt auf einen Defekt. Aber der Vizepräsident beginnt zu zweifeln, ob sich seine Ansichten zu bestimmten Problemen nicht geändert haben könnten, ohne dass ihm dies bewusst geworden wäre.

In "Das Hochzeitsalbum" wird auf dem Höhepunkt des Tagesglücks eine Simulation des Brautpaares erstellt. Simulationen anderer Momente kommen im Lauf der Zeit dazu. In Abständen werden diese Simulationen aktiviert, um die Erinnerungen an ein schönes Erlebnis zu genießen. Mit jeder Aktivierung erhält die reale Version der Hochzeit mehr Risse. Das künstliche Paar Ben und Anne hat ähnliche Schwierigkeiten wie die Leser, sich in dieser bizarren Welt zurechtzufinden, und wird gerade dadurch sehr sympathisch. Die digitalen Ben und Anne erleben mit, wie sich ihre physischen Vorbilder verändern. Anne leidet unter Depressionen, Ben zieht sich von ihr zurück, da er ihren Schmerz nicht länger erträgt. Eine digitale Erinnerung, Anne, beobachtet die Auflösung ihrer physischen Vorlage. Oder handelt es sich um eine andere digitale Anne?

"Ein Junge in Cathyland" verwendet eine Szene aus "Das Hochzeitsalbum" für eine eigene Geschichte, in der eine Amerikanerin und ein Russe die Hauptfiguren sind. Ein wenig liest sich die Geschichte wie ein Fragment. "Wie wir uns kennenlernten" beschäftigt sich intensiver mit den "personalisierten Gürtelbutlern", einem markanten und wiederkehrenden Motiv in Maruseks Geschichten. Diese netten Maschinen haben Zugriff auf das Gehirn ihrer Nutzer, auf die Nachfolge des Internet, treffen Entscheidungen und nehmen ihren Trägern das lästige Nachdenken über die Dinge des täglichen Lebens ab.

Entgrenzung nach oben, Beschränkung nach unten

In Maruseks Zukunftswelt haben die Menschen eine extreme Lebenserwartung, ermöglicht durch Langlebigkeitsbehandlungen (von legalen Möglichkeiten bis hin zu noch illegalen Nanoverjüngungen). Die Problematik der Überbevölkerung wird dadurch tendenziell verstärkt. Deshalb ist die Vermehrung wie auch die Zuweisung von Kindern streng kontrolliert. Generell gilt ein Fortpflanzungsverbot, illegale Zeugung führt zur Konfiszierung des Fötus, der bearbeitet und als "Chassis" vorgehalten wird, bis ein Paar die Erlaubnis erhält, ein Kind zu haben. Die DNS des Chassis wird mit der rekombinierten DNS der Eltern überschrieben, so dass daraus genetisch deren Kind wird.

Die Biotechnologie, die Segnungen der modernen Medizin, haben die Welt nicht wirklich zu einem besseren Ort gemacht. Ein solcher ist sie nur für die Eliten geworden. Dadurch wird sie für die Masse der Menschen zu einem unvorstellbaren Alptraum.

Einer der besten Autoren zeitgenössischer Science Fiction

In der Einführung zu seiner Erzählungssammlung sagt David Marusek: "Kurzgeschichten sind ein großartiges Medium, um sein Handwerk zu perfektionieren oder neue Dinge auszuprobieren." Für jemanden, der bald zwanzig Jahre Kurzgeschichten schreibt, bevor er sich an seinen ersten Roman macht, ein seltsames Statement.

Wer bereits mit Marusek vertraut ist und die eine oder andere seiner Erzählungen gelesen hat, erhält mit diesem Band nicht nur die Möglichkeit, sie in einer deutschen Übersetzung zu lesen, sondern eine vertiefende Perspektive auf Maruseks Erzählwelt zu erlangen. Wer noch nie etwas von Marusek gelesen hat, findet hier einen hervorragenden Ausgangspunkt, um einen der besten zeitgenössischen SF-Autoren kennenzulernen. Marusek schreibt aufregende und politisch relevante SF. Manche Leser mögen sich wundern über das hyper-gesunde Selbstbewusstsein Maruseks, das sich in der Vorbemerkung und den Kommentaren äußert. Aber die meisten seiner Erzählungen können ohne Übertreibung als Kleinode der SF bezeichnet werden.

(Almut Oetjen, Oktober 2011)

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