Du stirbst zuerst
- Piper
- Erschienen: Januar 2011
- 5
Fesselnder Thriller um Wahnsinn, Wahrheit und die Wege dazwischen
"Wer sind Sie?" Mit dieser Frage beginnt "Du stirbst zuerst" (im Original ganz anders, nämlich "The Hollow City" genannt) und gibt damit perfekt den geheimnisvollen, spannenden roten Faden des neuen Werks von Wells vor. Denn um die Fragen, "Wer? Wie? Was?" kreist alles.
Ich weiß, dass ich nichts weiß, oder doch?
Der Leser, dem alles durch die gebrochene Sichtweise von Michael geschildert wird, stellt schnell fest: Michael hält sich selbst für geistig gesund - aber welcher Verrückte tut das nicht ? Aus Lesersicht handelt er eindeutig paranoid und tja, zugegeben wie im Wahn. Michael selbst erscheinen seine Taten und Gedanken analytisch und korrekt, aber seine Überzeugung, dass Unbekannte ihn durch elektrische Geräte überwachen, macht den Leser doch nachdenklich. Dass die mitfühlenden Ärzte ganz offensichtlich wie Michael wissen, dass er eine dicke Krankenakte hat von A wie Angstzustände bis Z wie Zyankaliphobie spricht irgendwie eventuell nur ganz vielleicht auch gegen ihn. Aber ist Michael einfach schizophren und Schluss? Er selbst versucht verzweifelt herauszufinden, warum er plötzlich eine Amnesie hat, warum seine letzte Erinnerung ist, dass er schwer gestürzt ist und ob es die Gesichtslosen, von denen er sich verfolgt fühlt, wirklich gibt. Als Leser versucht man sich mit Hilfe des unzuverlässigen Ich-Erzählers Michael parallel seinen ganz eigenen Reim auf seine Phobie vor Handys zu machen und die Schnipsel der Ereignisse zu deuten und in Wahrheit und Wahn einzuteilen. Denn man ahnt zunehmend: man weiß verdammt wenig, was wirklich los ist.
Wellnesskiller und Gesichtslose: Eine Schnitzeljagd zwischen Sein und Schein
Was das Spannende ausmacht, ist einfach, dass man als Leser ähnlich wie Michael nach einiger Zeit hinter allem mehr vermutet, aber nicht ausschließen kann, dass man Michaels Wahnvorstellungen nur vermehrt auf den Leim geht. Hier werden Irrwege ausgelegt und der Leser absichtlich an der Nase herumgeführt. Dass ein Mörder namens "Wellnesskiller" Leuten das Gesicht aufschlitzt und von der Polizei gesucht wird, ist wohl so. Aber ist Michael wirklich unter Verdacht, dieser Killer zu sein oder sogar wirklich der Mörder und weiß es nur nicht? Es könnte natürlich auch sein, dass er ein potenzielles Opfer ist und darum auf der Flucht ist. Man erwischt sich dabei, immer neue Theorien aufzustellen. Die Hauptfrage bleibt dabei wie ein weißes Rauschen: schlagen Michaels Medikamente an oder entfernt er sich dadurch nur von der - zugegeben unglaublichen - Wahrheit. Das ist sehr ähnlich wie in dem Film "Fletchers Visionen": Immer wenn man denkt, jetzt blickt man durch, merkt man - hm, vielleicht doch nicht. Dies wird von Wells nicht nur schnell und packend, sondern auch durchaus mit einem Touch schwarzen Humor in Szene gesetzt:
"Sie sind nicht paranoid genug", meint Vanek.
"Ich bekomme Mittel gegen Angstzustände!" rufe ich. "Kein Wunder, dass ich nicht paranoid genug bin."
Dieses Puzzlespiel gelingt Wells ganz ausgezeichnet, gerade da man am Anfang zwar Schwierigkeiten hat, der wörtlich verrückten Story etwas abzugewinnen, aber dann immer mehr Michael Glauben schenken will. Mir gefiel auch, wie Wells in den letzten Kapiteln die Geschichte auflöst und das Geheimnis lüftet, was also die Wahrheit hinter dem Originaltitel, Michaels Geschichte, dem Wellnesskiller und den Gesichtslosen ist. Gerade dadurch verlässt "Du stirbst zuerst" das reine Thriller-Genre, was super ist.
Fazit: ein wirklich ungewöhnlicher Thriller, der den Leser selbst zum paranoiden Suchenden macht und aus der Masse heraus sticht, gerade weil er (vielleicht? ) nur einen verrückten Erzähler hat.
(Verena Wolf, März 2012)
Dan Wells, Piper
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