Als sie über den Tisch kletterte
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- Erschienen: Januar 2002
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Beziehungsdreieck mit zwei Menschen
Auf dem Campus der Universität von Nordkalifornien in Beauchamp arbeitet der Anthropologe Philip Engstrand, der sich auf politische und territoriale Konflikte an Universitäten spezialisiert hat. Seine Forschungen haben ihn mit der Teilchenphysikerin Alice Coombs in Kontakt gebracht. Beide sind seitdem ein Paar und wohnen zusammen. Professor Soft und seine Assistentin Alice erzeugen während eines Versuchs im Teilchenbeschleuniger eine seltsame Leere, die sie Leck nennen. Vielleicht handelt es sich um ein schwarzes Loch. Es ist unsichtbar und hat keine definierbaren Eigenschaften. Dann geschieht etwas Seltsames mit dem Loch. Es schluckt Dinge, aber nicht wahllos. Während es eine Katze und Aluminiumfolie "isst", lehnt es Glühbirnen ab.
Alice zieht zwei blinde Männer hinzu, Evan und Garth. Garth ist Physiker mit Blindsicht, er ist physikalisch in der Lage zu sehen, aber sein Gehirn weiß dies nicht. Alice bittet die Blinden gelegentlich, in das Labor einzuziehen.
Während die Physiker sich mit Leck beschäftigen, entfernt sich Alice zunehmend von Philip und verliebt sich in Leck. Philip kann nicht glauben, dass Alices Liebe zu ihm so schnell und vollständig vergangen sein soll. Er versucht alles, ihr wieder näher zu kommen. Professor Soft denkt, dass Alice Probleme hat. Er versucht Philip in die Forschungen mit einzubinden. Ein Team italienischer Wissenschaftler unter Leitung von Braxia besucht die Universität und will Leck erforschen. Cynthia Jalter, die Therapeutin von Evan und Garth, weckt Philips Interesse.
Eine Wissenschaftssatire
Lethem hat mit "Als sie über den Tisch kletterte" eine Satire auf den Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb geschrieben, in der jeder bei jedem Phrasen stiehlt oder ihn zitiert, in der Fachleute Expertisen zu allem abliefern können, nur weil sie von einem begrenzten Bereich Ahnung haben, in der sich Fachleute Erfahrungen und Wissen anderer zu ihrem Vorteil aneignen. Philip ist ein Wissenschaftler, der sich um die Relevanz seiner Arbeit keine großen Gedanken macht. Tatsächlich hält er sie für "irrelevant, aber bedeutungsvoll". Seine Forschungsergebnisse erscheinen ausschließlich in deutscher Übersetzung in einer obskuren Fachzeitschrift. Der Name der Zeitschrift ist "Veröffentlichen oder sterben", das Kürzel: VOS-Journal. Aber von seinem Gehalt kann er leben. Zudem hat er in Alice Coombs einen Menschen gefunden, den er liebt.
Eine Liebesgeschichte
Philip und Alice sind Suchende, deren Identität und die Beziehung zueinander unsicher ist. Diese Unsicherheit wird durch Leck verstärkt, der im Original "Lack" heißt, wodurch der Mangel an etwas, das Fehlen von etwas adressiert wird.
Aber wer oder was ist Leck? Werden die Dinge, die er, so Alice, oder es, so Soft, aufnimmt, "isst", an einem anderen Ort, vielleicht in einem Paralleluniversum, wieder ausgespuckt? Ist Leck gar der Zugang zu einer anderen Welt, den Menschen nutzen können? Warum scheint Leck Vorlieben und Abneigungen zu haben? Oder sind all dies nur in Hilflosigkeit angewandte Kategorien? Jedenfalls entscheidet Alice, dass Leck eine intelligente Seinsform ist und verliebt sich in ihn, sie oder es. Innerhalb sehr kurzer Zeit zieht Alice zu Leck ins Labor. Damit droht Philips Leben auseinander zu fallen. Er versucht, Alice in die Realität zurückzuholen - oder doch nur zu sich? Gibt es hier einen Unterschied?
Menschen wollen Kontrolle haben, über ihre Arbeit, über andere Menschen. Diese Kontrolle wird ihnen entzogen, wenn sich andere Menschen die Ergebnisse ihrer Arbeit aneignen. Philip glaubt, seine Arbeit und Alice zu kontrollieren, dabei entzieht sich seine ganze Welt seinem Einfluss. Dies nicht auf eine Weise, die ihn gefährden könnte. Er ist einfach nur hilflos. Er trägt sogar einen Teil der Verantwortung an der Transformation des Phänomens Leck in eine Persönlichkeit, indem er Leck während einer Pressekonferenz vermenschlicht. Er überträgt Leck aus der Sphäre der Physik in die des Sozialen, weist Leck Kategorien wie Bedürfnisse und Vorlieben zu. Damit macht er eine imaginäre Größe erst zu seinem tatsächlichen Rivalen.
Philip verwendet viel Raum auf die Reflexion des seltsamen Beziehungsdreiecks, in dem eine Seite beschrieben ist durch ein physikalisches Experiment, das niemand versteht. Ein Teil der Erzählung beschäftigt sich mit Theorien zur Erklärung von Leck und ist gefüllt mit Spekulationen über die Quantenphysik. Diese verknüpft Lethem mit philosophischen Überlegungen, die anthropozentrisch sind: damit ein Universum überhaupt existieren kann, muss es von Lebensformen mit Bewusstsein bevölkert sein. Lethem scheint diesen Denkstrang mit seiner recht schwachen Begründung nicht sehr ernst zu nehmen. An einer Stelle in seinem Buch hält ein Professor einen Vortrag, der durch den Dekonstruktivismus bestimmt ist. Seine Vorstellungen sorgen für Spaß beim Lesen und bringen Professor Soft dazu, sich zu übergeben.
Lethem mischt Fantasy, Science Fiction und Campus-Roman. Er schafft eine Versuchsanordnung, die zugleich auf unsere und eine mögliche andere Welt angewendet wird. Darin behandelt er: Denken, das in sein logisches Extrem getrieben wird; die Akzeptanz des Paradoxen; den Versuch, verschiedene Ansätze, in einer unübersichtlichen Welt zu überleben, miteinander zu vereinen. Schließlich hinterfragt er das Verständnis, das Menschen von Liebe haben.
"Als sie über den Tisch kletterte" ist intelligente Unterhaltung mit zwei eher abstrakten denn fleischlichen Hauptfiguren in einer traurig-grotesken Lage und einem Ensemble aus teils absurd gestalteten Nebenfiguren.
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