Das Experiment des Doctor Nikola
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- Erschienen: Januar 2011
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Das ewige Leben kann sehr kurz sein
Das Leben meint es nicht gut mit Dr. Douglas Ingleby. Ohne Job und Einkommen nagt er buchstäblich am Hungertuch, als ihn ein alter und erfolgreicher Freund nicht nur in sein Haus einlädt, sondern dem genialen Wissenschaftler Dr. Nikolai vorstellt, der just auf der Suche nach einem abenteuerlustigen Assistenten ist.
Rasch wird man sich einig, und schon ist Ingleby auf dem Weg in die englische Grafschaft Northumberland. Dort hat Nikolai Allerdyne Castle, ein einsam am Meeresstrand gelegenes Schloss, für ein großes Experiment erworben: Nach jahrelangen Bemühungen ist er sicher, das Geheimnis des ewigen Lebens gelüftet zu haben!
Bis es soweit ist, muss freilich noch einige Forschungsarbeit geleistet werden. Nikolai gedenkt keinesfalls, sich den damit verbundenen Risiken auszusetzen. Er hat sich ein menschliches Versuchskaninchen gesucht: Don Miguel de Moreno ist im Alter von 98 Jahren dem Tod deutlich näher als dem Leben. Begleitet von der blutjungen Consuelo, seiner Urenkelin, und zukünftig ärztlich betreut von Dr. Ingleby, zieht er deshalb in Allerdyne Castle ein, wo Nikola ihn ´behandeln´ wird.
Doch Nikola hat sich auf seiner weltweiten Jagd nach der Unsterblichkeitsformel zahlreiche Feinde gemacht. Zuletzt brachte er eine chinesische Geheimorganisation gegen sich auf, die ihm auch in England nach dem Leben trachtet. Der einohrige Mordbube Quong Ma umschleicht das Schloss, in dem die Natur sich nicht wehrlos von Nikola ins Handwerk pfuschen lässt. Während Consuelo machtlos die Hände ringt, macht sich Ingleby, der sich längst in die spanische Schönheit verliebt hat, für Recht & Ordnung stark ...
Keine Furcht vor Geistern oder Klischees
Ein uraltes, baufälliges, mit Keller-Kerkern ausgestattetes und von Geheimgängen durchzogenes Schloss auf einer sturmumtosten Meeresklippe, darin ein mysteriös und bedrohlich ausgestattetes ´Labor´, das eher einer Alchimistenstube gleicht, sowie eine abgelegene Kammer, in der die gruseligen Überlebenden nur bedingt gelungener Experimente ihr Dasein fristen: Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass sich Guy Newell Boothby vor dem Klischee fürchtet. Schon als er vor einem Jahrhundert "Das Experiment des Doctor Nikola" schrieb, war dessen ´gotisches´ Ambiente keine frische Schöpfung mehr. Auch die übrigen Zutaten dieses dritten Nikola-Abenteuers sind gut abgehangen aber schmackhaft bzw. bewährt. Mordgierige Asiaten waren dem viktorianischen Publikum wohlvertraut; dass sie dieses Mal in England selbst ihr Unwesen treiben, sorgt für zusätzliche Angstschauer.
Da Nikola der Rolle des genialen Übermenschen treu bleiben muss, führt Boothby zwei ´Normalsterbliche´ als Identifikationsfiguren ein. Schon die erste Begegnung zwischen Ingleby und Consuelo lässt den erfahrenen Leser seufzen: Eine Liebesgeschichte ist vorprogrammiert. In der Tat verzichtet Boothby keinesfalls auf dieses nicht nur zu seiner Zeit probate und angeblich unverzichtbare Element eines Romans, der ein möglichst breites Publikum finden sollte. Der Verfasser griff auf dabei auf jene Balzrituale und Liebesschwüre zurück, mit denen sich die entsprechenden Sequenzen offensichtlich automatisch schrieben - auf den Leser des 21. Jahrhunderts wirken sie jedenfalls recht mechanisch.
Ein Bösewicht wird reaktiviert
Mit dem brillanten aber skrupellosen bis diabolischen Dr. Nikola war dem Vielschreiber Boothby 1895 eine attraktive und publikumswirksame Figur gelungen. Der Autor schmiedete dieses Eisen, so lang es heiß war, und ließ dem ersten Abenteuer mehrere Fortsetzungen folgen. "Das Experiment des Doctor Nikola" ist dabei deutlich kürzer geraten als der erste und zweite Roman. Der stets von Terminen gehetzte Boothby wollte einerseits vom Erfolg der Nikola-Reihe profitieren, während ihm andererseits keine wirklich originelle Story einfiel, was für ihn nie ein Grund war, die Feder ruhen zu lassen.
In der Tat fällt nach dem in China und Tibet spielenden zweiten Teil mit seinen ausführlichen, farbenfrohen Schilderungen geheimnisvoller Orte die Beschränkung auf ein Schloss im wenig exotischen England auf. Obwohl Boothby sich Mühe gibt, wirkt Allerdyne Castle nur auf die chronisch gefühlsschwache Consuelo unheimlich. Ohnehin erreicht die Handlung diesen Ort vergleichsweise spät. Wie üblich vertändelt Boothby viel Zeit mit einer allzu breit angelegten Einleitung. Diese Verzögerung muss er später aufholen. Mit ausdrücklicher Ausnahme der Liebesgeschichte gelingt ihm dies: "Das Experiment ..." profitiert von der relativen Kürze der Story.
Ein Schurke verändert sich
Dr. Nikola ist ein Mann mit vielen Facetten. Ein "Schurke" ist er jedoch nur bedingt. Schon in "Die Expedition ..." erwies er sich als Kamerad, der seinen Gefährten zwar in die Höhle des Löwen führte, dort und im Verlauf der späteren Flucht aber treu an seiner Seite stand. Wenn Nikola ein Schurke ist, so bezieht sich dies auf die Bedingungslosigkeit, mit welcher er seine Ziele verfolgt. Nikola ist ein besessener Forscher, der wie sein Vorgänger Frankenstein an den Grundfesten des Lebens selbst rührt. Macht und Geld sind ihm dabei nur notwendige Instrumente.
Auch seine ´Assistenten´ fallen in diese Kategorie. Dies wird deutlich, als Nikola in "Das Experiment ..." ein einziges Mal die Maske fallen lässt: Ingleby hat durch ein Versehen beinahe den Tod des alten Don Miguel verschuldet. Nikola verliert die Fassung und droht: "Sie haben das ganze Experiment gefährdet, und wenn der alte Mann gestorben wäre, ... dann hätten Sie, so wahr ich lebe, die Sonne nicht mehr aufgehen sehen. Ich schwöre Ihnen, ich hätte Sie getötet, ohne irgendwelche Gewissensbisse, wie einen Hund, der mich gebissen hat." (S. 92) Boothby macht hier deutlich, dass und wieso Nikola ein gefährlicher Mann ist.
Ansonsten beschränkt er sich auf die Schilderung von Nikolas Taten, ohne diese zu werten. Es bleibt dem Leser überlassen zu fragen, wie es um die Moral eines Mannes bestellt ist, der raubt und wohl auch mordet, um an begehrtes Wissen zu kommen. Das Mittel zur Lebensverlängerung probiert er an einem Menschen aus, den niemand außer der Urenkelin vermissen wird, weshalb Nikola sie einfach mit in sein Schloss nimmt und damit mundtot macht.
Allerdings verändert der unerwartete Ausgang seines Experimentes Nikola. Sein ganzes Leben hatte er darauf ausgerichtet. Nun muss er sich ein neues Ziel setzen. Boothby bereitet geschickt die Fortsetzung der Nikola-Saga vor: Der Mann, der bisher alles unter Kontrolle hatte, ist aus dem Gleichgewicht geraten. Dies werden seine Feinde erkennen und ausnutzen.
Alles bleibt gut
Ob sie erfolgreich waren, erfuhren Boothbys englische Leser bereits 1901. Das deutsche Publikum musste sich 99 Jahre gedulden. Nachdem "Die Expedition des Doctor Nikola" 1912 erschienen war, wurde die Reihe nicht mehr fortgesetzt bzw. übersetzt. Erst 2011 ging es im Rahmen der Doctor-Nikola-Edition des Wurdack-Verlags weiter, die - da offensichtlich erfolgreich - ihrer Vollendung entgegengeht: Dieses Mal werden wir auch hierzulande Nikolas Schicksal kennenlernen.
Wie üblich und vom Leser erfreut registriert liest sich "Das Experiment ..." trotz der geschickt berücksichtigten Anachronismen sehr flüssig. Das Denken und Handeln unserer Vorfahren wird im Roman zusätzlich dramatisiert, doch was einst fesselte, wirkt heute oft langweilig oder sogar peinlich. Diese Hürde muss der Leser nicht fürchten. Stattdessen geht es mit Schwung in die Zielgerade. Im "Palazzo des Doctor Nikola" werden wir uns wiedertreffen!
Bonustrack: Unsterbliche Liebe
Weil dieses dritte Nikola-Abenteuer ein wenig kurz geraten ist, hängt der deutsche Herausgeber eine (ebenfalls erstmalig in Deutschland veröffentlichte) Kurzgeschichte (S. 139-157) an. G. N. Boothby schrieb "Eine Geschichte von Ägypten" ("A Professor of Egyptology") 1904. Er erzählt von der jungen Erbin Cecilia Westmoreland. Sie wird im Verlauf einer Ägyptenreise damit konfrontiert, die Wiedergeburt einer Prinzessin zu sein, welche zur Zeit der Pharaonen einen tragischen Tod starb.
Der Handlungsverlauf birgt für den heutigen Leser keine Überraschungen. Sie ist vor allem Beleg für jene historische Epoche, die ein ´gebildetes´ Europa im Bann des alten Ägypten zeigt. Bis in die 1930er Jahre sorgten Ausgrabungen für spektakuläre und die Fantasie anregende Funde. Schriftsteller sprangen auf diesen Zug auf und schrieben spannende, die Forschungsergebnisse notfalls ignorierende Geschichten über mächtige Pharaonen, schöne Prinzessinnen und rächende Mumien. Reinkarnation bildete eine beliebte Brücke in die ausgeschmückte Vergangenheit. Auch Boothby beschreitet sie, doch wesentlich interessanter ist seine ausführliche Einleitung geraten, die mit deutlichem Spott aber trügerisch elegant das hohle gesellschaftliche Treiben der britischen Oberschicht in Kairo um 1900 schildert: Boothby war sicherlich ein Vielschreiber, aber sein Handwerk beherrschte er!
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