Die Weissen Hände und andere Geschichten des Grauens
- Blitz
- Erschienen: Januar 2004
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Das Leben ist schwer, der Tod auch kein Ausweg
Neun Kurzgeschichten eines weitgehend unbekannten englischen Autors beschwören die Faszination des Schreckens herauf, in der die Suche nach einer Alternative zum Leben gipfeln kann:
- Die Weißen Hände ("The White Hands", S. 9-35): Was wäre, wenn die großen Geister dieser Welt bloß körperlich sterben, während ihr Intellekt nicht nur präsent bleibt, sondern die Geheimnisse des Jenseitigen erforscht? Ein Literaturforscher beschließt, diese Theorie durch einen Blick in den Sarg einer berühmten, sehr lange toten Schriftstellerin zu überprüfen ...
- Das letzte Spiel des Großmeisters ("The Grandmaster's Final Game", S. 37-55): Ein misanthropischer Schachspieler hat durch den Tod weder seine Kunst verlernt noch seinen Jähzorn gebändigt, wie sein aktueller Gegner am Brett leidvoll feststellen muss ...
- Momentaufnahmen des Schreckens ("Mannequins in Aspects of Terror", S. 57-79): In einem verlassenen Bürohochhaus gerät ein frustrierter Zeitgenosse in eine Schreckenswelt, die merkwürdig vertraut wirkt ...
- Appartement 205 ("Apartment 205", S. 81-103): Der seltsame Zimmernachbar hat ein Spiegelsystem ersonnen, das den Blick ins Reich der Toten ermöglicht - oder ist es umgekehrt?
- Die Sackgasse ("The Impasse", S. 105-123): Wer für diese Firma arbeitet, muss sich um sein Privatleben keine Gedanken mehr machen, denn er wird sie nicht mehr verlassen ...
- Kolonie ("Colony", S. 125-139): In einem abgelegenen Stadtviertel findet ein neugieriger Forscher endlich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, was ihn freilich aus dieser Welt entfernt ...
- Vrolyck ("Vrolyck", S. 141-163): Ein neuer "Plan 9 aus dem Weltraum" wurde in Gang gesetzt, und dieses Mal scheint er zu funktionieren ...
- Die Suche nach Kruptos ("The Search for Kruptos", S. 165-183): Wissen ist Macht, lautet ein altes Sprichwort, doch was geschieht, wenn das Wissen so mächtig geworden ist, dass es das menschliche Begriffsvermögen übersteigt?
- Schwarz wie die Finsternis ("Black as Darkness", S. 185-203): Der Nachlass einer vergessenen Schauspielerin entwickelt ein Eigenleben, der ihren Witwer erst in den Bann und dann ins Verderben zieht ...
- Nachwort: Allein auf dem fremdesten aller Planeten: Die urbane Phantastik des Mark Samuels (von Thomas Wagner, S. 205-218)
Langweiliges Leben, spannendes Jenseits?
Entfremdung und Einsamkeit - dies sind die beiden Begriffe, die einem sofort einfallen, will man diese neun Geschichten unter einen Titel fassen. Die Figuren sind zwar in der Regel nicht namenlos, doch sie gehören zu jenen Zeitgenossen, die niemand wirklich wahrnimmt. In einer Welt, die sich zu schnell für sie zu bewegen scheint, sind sie aus ihrem sozialen Umfeld gefallen. Ihre Interessen decken sich nicht mit denen der Mitmenschen. Der Alltag, der von diesen anscheinend zufrieden gelebt wird, bietet keine Heimat. Privat besteht kein Interesse an normalen zwischenmenschlichen Beziehungen. Stattdessen ist da die Sehnsucht nach einer anderen Welt, in der man endlich zu Hause fühlen wird.
Fatal erweist sich für Samuels´ Protagonisten stets, dass sie selbst nicht definieren können, was sie sich eigentlich wünschen. Der Verfasser geht von der Existenz fremder Welten oder Sphären aus. Er lässt sie seine Figuren finden. Dabei stellt sich - banal ausgedrückt - heraus, dass auch dort niemand auf sie gewartet hat. Im Gegenteil: Die Welten jenseits der Welt sind vor allem fremd; so fremd, dass der Schrecken, der die Reisenden aus dem Diesseits dort erwartet, nicht einmal persönlich gemeint ist. Sie lassen sich auf ein Abenteuer ein, für das sie weder mental noch körperlich gerüstet sind. Die Konsequenzen sind entsprechend. Den Leser lässt dies übrigens ziemlich kalt - die literarischen Figuren, deren Untergang er beobachtet, bleiben auch ihm gleichgültig, was ihr Verderben besiegelt.
Gleich um die Ecke wartet der Schrecken
Die Portale zu diesen fremden Welten liegen bei Samuels nur selten dort, wo sie die klassischen Horrorautoren lokalisieren: in fernen, schwer erreichbaren Regionen. Muss diese Reise unternommen werden (wie in "Die Suche nach Kruptos"), führt sie dorthin, wo der Verfasser die ideale Brutstätte des Seltsamen vermutet: ins Herz der modernen Großstadt, die für Samuels´ tragische Figuren ein Ort ist, an dem sie in einer anonym bleibenden Menschenschar verlorengehen. Wo man sich nicht umeinander kümmert, ist es zu erwarten, dass das Fremde erfolgreich eigene Vorstöße in diese Welt unternimmt ("Vrolyck").
Denn dies ist die zweite Prämisse, die Samuels immer wieder ins Spiel bringt: Das Jenseits braucht den Menschen nicht. Womöglich ist die uns bekannte Welt nur eine Spiegelung von Träumen merkwürdiger, gleichgültige Wesenheiten. Auch die Toten kommen in Frage, doch sie sind ungleich gefährlicher, denn sie erinnern sich ihrer Existenz im Leben und können gezielt nach Opfern suchen. Warum sie dies tun, bleibt letztlich rätselhaft. Samuels weigert sich nicht, die Motive der Fremden zu nennen; er geht davon aus, dass es gar keine Motive gibt. Seine Figuren bringen enorme Opfer, um in das erhoffte Paradies zu gelangen. Am Ziel angelangt müssen sie erkennen, dass dort nur Dunkelheit und Leere ist ("Die Weißen Hände", "Appartement 205").
Federleichtes Grauen, manchmal zu gewichtig
Mark Samuels verfasst Storys, die sich eher subtil dem Phantastischen widmen. Die bekannten Kreaturen der Nacht wird man hier nicht finden. Solche Zurückhaltung liebt die Literaturkritik, die davon ausgeht, dass der feine Pinsel mächtiger ist als der breite Quast. Als seine Vorbilder nennt Samuels Edgar Allan Poe, Arthur Machen, H. P. Lovecraft und andere Klassiker des Genres, aber auch moderne Meister wie Robert Aickman, Thomas Ligotti oder Ramsey Campbell. Diese klingen sehr deutlich durch - vielleicht zu deutlich, denn der fleißige Leser phantastischer Geschichten wird so manchen Plot rasch wiedererkennen.
Darüber hinaus wird die finale Auflösung der komplexen, viel mehr versprechenden Vorgeschichte nur selten gerecht (vgl. besonders "Das letzte Spiel des Großmeisters" und "Momentaufnahmen des Schreckens"), muss bzw. soll Stimmung eine plausible Story ersetzen ("Kolonie"): alte Probleme nicht nur aber vor allem der Phantastik. Stil und Ausdruck machen diese ´Anlehnungen´ sowie die Tatsache, dass Samuels sich durchaus überschätzen kann - "Die Sackgasse" wirkt wie eine Franz-Kafka-Parodie, und die Nazis in "Die Suche nach Kruptos" entlehnt der Verfasser offenbar einer schundigen TV-Vorabendserie -, wieder wett. (Interessant ist auch die Tatsache, dass eine ganz normale Gruselgeschichte wie "Das letzte Spiel des Großmeisters" besser funktioniert als manche angestrengt ambitionierte Samuels-Story.)
Günstige und weniger günstige Autorenschicksale
Interessante Hintergrundinfos erhält der Leser durch ein Essay, in dem Thomas Wagner Mark Samuels' Werk (auf dem Stand des Jahres 2004) erläutert sowie ein Interview mit dem Schriftsteller führt. Aus diesem (und noch mehr aus dem biografischen Abriss auf seiner Website) kann man herauslesen, dass Samuels eigene Wesenszüge und Erfahrungen in seine Figuren einfließen lässt. Sein Bürojob frustriert ihn, aber als Vollzeit-Autor sieht er sich nicht. Immerhin bieten ihm seine Geschichten einen privaten Fluchtweg aus dem Alltag.
Die deutsche Ausgabe von "Die Weissen Hände" ist ein gar nicht kleines & feines Buch. Das sauber gebundene, mit einem von Mark Freier gestalteten Cover versehene - im Zeitalter der Bildstock-´Titelbilder´ ist dies eine Erwähnung wert! - Paperback enthält zu jeder Story eine schwarzweiße Innenillustration von Denis Vidinski. Die Übersetzung von Monika Angerhuber ist kompetent und flüssig lesbar. Zudem bietet die "Blitz"-Ausgabe den ursprünglichen Samuels: Für die Tartarus-Erstausgabe von 2003 nahmen sich die englischen Herausgeber die Freiheit (oder Frechheit), die Titelgeschichte sowie "Momentaufnahmen des Schreckens" zu ´bearbeiten´, d. h. zu entschärfen und lesermassenkompatibler zu gestalten.
Mark Samuels, Blitz
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