Die letzte Arche
- Heyne
- Erschienen: Januar 2011
- 3
Der dornenreiche Pfad in die Zukunft
Im Jahre 2012 beginnt bisher tief im Inneren der Erde verborgenes Wasser an die Oberfläche zu dringen. Weltweit beginnt der Meeresspiegel zu steigen. Erst versinken ´nur´ die Küstenregionen, doch die Fluten nehmen kein Ende. So bestätigt sich, was die Ozeanografin Thandie Jones ankündigte: Alles Land versinkt - ein Vorgang, der sich nicht aufhalten lässt.
Schnell bricht die Zivilisation zusammen. Ein Milliardenheer entwurzelter Menschen zieht in die möglichst hoch gelegenen Regionen ihrer Heimatkontinente. Dort sorgen Hunger und Krankheiten für hohe Opferzahlen. Die staatlichen Strukturen zerbrechen, das Militär muss für Ordnung sorgen.
Verzweifelt versucht man in den USA, wenigstens einer kleinen Gruppe Menschen ein Entkommen zu ermöglichen. 2025 beginnt der Bau der "Arche 1", die einen fernen, erdähnlichen Planeten ansteuern soll. Nachdem das Geheimnis des überlichtschnellen Raumflugs entschlüsselt wurde, besteht zumindest die Möglichkeit, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Nur 80 junge Männer und Frauen dürfen an Bord gehen, als 2042 der Start endlich aber überstürzt und chaotisch gelingt.
Während die Technik der Arche wie erhofft funktioniert, erweisen sich die Entwürfe für ein reibungsloses Zusammenleben als Makulatur. Die Notgemeinschaft zerfällt in Cliquen, Machtkämpfe brechen aus. Nicht alle Kandidaten zeigen sich dem Druck gewachsen. Streit, Wahnsinn und Mord dezimieren die Mannschaft, lange bevor man das Reiseziel erreicht.
Auf dem Wasserplaneten Erde versuchen die wenigen Überlebenden, sich mit der veränderten Umwelt zu arrangieren. Das Leben findet auch hier einen neuen Weg, doch dieser führt in eine gänzlich fremde Richtung ...
Apokalypse und Neuanfang im SF-Remake
Die Welt geht unter - nicht von einem Augenblick zum nächsten, sondern so langsam, dass die Menschheit sich der Katastrophe bewusst wird und sie zur Gänze durchleiden muss. Dieser Ablauf öffnet eine buchstäblich globale Bühne. Vor allem britische SF-Schriftsteller platzieren dort seit jeher ihre "soft apocalypses". Wer auf einer allseitig von einem oft grimmigen Ozean umtobten Insel lebt und dort von Römern, Wikingern, Spaniern oder Nazis belagert und belästigt wurde, versteht es vermutlich, sich in das Seelenleben fluchtlos bedrohter Zeitgenossen einzufühlen.
Paradoxerweise ist das Ende der Welt erstaunlich variationsarm. Feuer, Wasser, Erde, Luft - diese vier Elemente geraten in Aufruhr. In "Die letzte Arche" verlieren die Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen. Weil die Zivilisation zugrundegeht, wird die Gesellschaft geprüft. Damit sind die beiden Eckpfeiler der Handlung definiert. Hinzu kommt die Notwendigkeit, die globale Bühne mit wenigen aber markanten Identifikationsfiguren zu besetzen: Auch die "langsame" Apokalypse sprengt in ihrer Dimension das menschliche Vorstellungsvermögen. Die Katastrophe benötigt Gesichter, die nicht in der Masse verschwimmen. Um die Holles, Kellys, Patricks, Mels und sogar die Gordo Alonzos dieser Geschichte sorgt man sich. Dass Milliarden Menschen anonym in der großen Flut sterben, bleibt abstrakt, auch wenn Baxter mehrfach versucht, diese Tatsache zu thematisieren.
Im Zentrum steht der Mensch
Ein typisches Merkmal vor allem moderner literarischer Apokalypsen ist zu erwähnen: Sie werden den dramatischen Ereignissen möglichst seitenstark gerecht. "Die letzte Arche" umfasst fast 700 Seiten, die selbst im Taschenbuch für eine Rückenbreite von 5,5 cm sorgen. Dabei setzt die Handlung erst Jahre nach der eigentlichen Katastrophe ein, der Baxter in "Die letzte Flut" weitere 750 Seiten gewidmet hat. Auch mit "Die letzte Arche bringt er die Handlung nicht zum Ende. Gleich mehrere offene Enden geben ihm die Möglichkeit, sie später noch einmal fortzusetzen.
Zumal Baxter die Handlung episodisch aufbaut. Sie erstreckt sich über die Jahrzehnte 2025 bis 2081, wobei ´ereignisarme" Phasen ausgelassen werden. Geschieht etwas nach Ansicht des Verfassers Erwähnenswertes - eine Deutung, die der Leser nicht unbedingt teilt, wie weiter unten auszuführen ist -, beginnt ein neues Kapitel. Dabei nutzt Baxter das Privileg des allwissenden Erzählers, springt von Ereignis zu Ereignis und schließlich Lichtjahre weit ins Weltall.
Wohin immer wir ihn begleiten, wir stoßen auf - Menschen. Zwar hat sich Baxter in die Mechanismen denkbarer Weltuntergänge und die Möglichkeiten des überlichtschnellen Raumflugs vertieft, aber er ordnet den mechanischen Aspekt der Zerstörung oder die Schaffung technischer Wunder dem menschlichen Faktor unter. Die klassische "Space Opera" hielt es genau andersherum. Beide Positionen bieten ihre Vorteile, während die gegenseitige Annäherung offensichtlich schwierig ist.
Neue Herausforderung & alte Probleme
Während die Technik notbedingt gewaltige Fortschritte macht, bleibt der Mensch der alte. Die durch Regeln und Pflichtgefühl gebildete Gemeinschaft hält nicht bzw. nur sporadisch und in Konzentration auf eine Aufgabe - hier die Konstruktion eines interplanetarischen Raumschiffes und später dessen Steuerung. Selbst dann brechen sich Eigennutz & Eifersucht Bahn und kündigen drohend den vollständigen Bankrott der angeblich zivilisierten Menschheit.
Dass bei der Regulierung des daraus resultierenden Kurses auch unangenehme Entscheidungen zu fällen sind, ist für Baxter ein Faktum. Die Schar der an "Arche 1" bastelnden Wissenschaftler erzeugt erst Ergebnisse, als das Militär die Projektleitung übernimmt. Der autoritäre Gordo Alonzo - von Baxter vermutlich unabsichtlich als Karikatur einer Figur gestaltet, die Robert A. Heinlein selig nicht schlechter hätte erschaffen können - verkörpert in seiner Geringschätzung krisenzeitlich ausgesetzter Werte die brutale Gegenwart. Außerhalb des künstlich in Gang gehaltenen Raketenbasis verhungert das Gros der Bevölkerung, stirbt an Seuchen und wird dabei mit Waffengewalt in Schach gehalten; selbst Euthanasie bleibt keine böse Erinnerung an die Vergangenheit mehr, während an Bord der "Arche 1" die Fehler der Menschheitsgeschichte quasi im Zeitraffer wiederholt (und überzeugender beschrieben) werden.
Solange ein genetisch relevanter Splitter der Gesamtmenschheit überlebt, ist die Fortexistenz der Art gewährleistet. Die nüchterne, grundsätzliche biologische Realitäten in den Vordergrund stellende Haltung bereitet dem Leser Bauchweh - und so beabsichtigt der Autor es. Auf der anderen Seite enthält er sich jeder Wertung bzw. überlässt sie seinen Lesern.
Welten-Drama oder Seifenoper?
Allerdings ist Baxter kein Literat, der die damit einhergehenden Klischees mit neuen Ideen beleben oder mit schönen Worten bemänteln könnte. Schon das Tempo, mit dem er meist voluminöse Romane - gern als Trilogien - ausstößt, verrät den Erzähler als Handwerker. Er wiederholt sich - unterhaltsam zwar, aber inzwischen unübersehbar. Die Probleme seiner gebeutelten aber konturarmen Figuren verdeutlicht er vor allem in der ersten Hälfte gern durch seitenlange Diskussionen, während er die Handlung aussetzt. Dies bekommt ihr nicht immer, was Baxter durch den Sprung zum nächsten Krisenzentrum in den Griff zu bekommen versucht. Als er im letzten Drittel weniger in die Breite geht und das Geschehen beschleunigt, verschwindet dieses Problem.
Freilich könnte es eine bittere aber zutreffende Tatsache sein, dass ewiges Gerede, fruchtloses Debattieren, Liebesschwüre, Flüche oder das Schwelgen in Erinnerungen, also jener sich ständig wiederholende Chor, dessen Liedprogramm wir schon kennen, weil TV-Seifenopern sich aus derselben Quelle speisen, einen ureigenen menschlichen Wesenszug dokumentieren. Wiederum stellt Baxter dem technischen Genius den Alltagsmenschen gegenüber, der auch als Genie die alten Verhaltensmuster nicht abschüttelt, sondern sie hier 111 Lichtjahre ins All exportiert.
Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto fester nimmt Baxter die Fäden in der Hand. Von Zeit zu Zeit zieht er sie straff und sorgt für erfreuliche Überraschungen: Mit dieser Wendung haben wir nicht gerechnet. Selbst das schon erwähnte offene Ende, das der Verfasser nicht als Finale, sondern als weiteres Kapitel gestaltet, lässt uns nicht ratlos oder verärgert zurück: Die Zukunft ist ungewiss, gibt Baxter uns mit auf den Weg. Genau dies hat er einmal mehr unterhaltsam unter Beweis gestellt.
Stephen Baxter, Heyne
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