Die Schwestern
- Atlantis
- Erschienen: Januar 2010
- 4
Kreuzungen auf dem Weg zu Verdammnis & Erlösung
Arizona 1848: Der Westen der noch jungen USA ist nicht nur wild, sondern auch kaum erschlossen. Die schier unendlich weite Landschaft steckt voller Gefahren und Geheimnisse, bietet aber denen, die sich diesen Herausforderungen stellen, viele Möglichkeiten, zu Geld oder Ruhm zu kommen.
Marion T. Bell ist ein Reporter, der nach dem mexikanisch-amerikanischen Krieg (1846-48) in Arizona gestrandet ist und die Erinnerung an erlebte Gräuel im Alkohol ertränkt, bis er sich mit dem Revolvermann John Charles Hart anfreundet. Dieser nimmt den jungen Mann unter seine Fittiche und überredet ihn, mit ihm und seinem Partner Mother Knuckles Mustangs zu fangen.
Der harte aber ruhige Alltag des Trios findet ein Ende, als sie in der Prärie die junge Mexikanerin Elena finden. Sie wurde zusammen mit ihrer Schwester Celina von Paddy Ryan und seinen Spießgesellen entführt und ins geheime Lager der grausamen Valenzura-Schwestern verschleppt. Eva, Maria und Luzia lassen im Grenzraum der USA und Mexiko junge Frauen entführen, um sie als Liebessklaven zu verkaufen. Wer nicht spurt, stirbt als Menschenopfer zu Ehren jener alten Dämonengötter, zu deren Dienerinnen sich die Schwestern ernannt haben.
Elena konnte flüchten, musste aber Celina zurücklassen. Als sie wieder zu Kräften gekommen ist, will sie zurückkehren, um ihre Schwester zu befreien. Hart, Bell und Mother wollen ihr helfen - und geraten in einen nur zu realen, blutigen Höllenpfuhl ...
Cowboys gegen böse Geister?
Warum sollte ausgerechnet der US-Westen des 19. Jahrhunderts eine geisterfreie Zone (gewesen) sein? An allen möglichen und auch unmöglichen Orten dieser Welt sowie zu allen Zeiten trieben Spukgestalten ihr Unwesen. Da außerdem gewaltsam zu Tode gekommene Zeitgenossen sichere Brutstätten für rachsüchtige Gespenster sind, ist besagter Westen gerade prädestiniert für zünftige Gruselgeschichten. In der Tat schrieb bereits Ambrose Bierce (1842-1913/14), der die große oder zumindest turbulente Zeit des Wilden Westens selbst miterlebt hatte, spannende, stimmungsvolle und vor allem unheimliche Storys, die in dieser Zeit und Landschaft spielen.
Trotzdem stutzt nicht nur der europäische Leser, wenn es um Cowboys phantastisch wird. Ist es der Schatten von John Wayne, der noch heute von Wolke 7 auf die Reinheit des Western-Genres pocht und nur die bekannten Geschichten von Viehzüchtern, Revolvermännern, Bardamen und natürlich Indianern gestattet? Eine offizielle Vorschrift ist dies nicht, aber der Western wird doch vergleichsweise selten spielerisch mit anderen Genres gemischt.
Nichts ist bösartiger als der Mensch
Auch Jack Ketchum bleibt mit seiner ´Geisterwestern-Novelle" zurückhaltend. Ihm geht es ohnehin höchstens marginal um Dämonen oder andere übernatürliche Gestalten. In erster Linie spielt sich der Horror - typisch für Ketchum - ungeachtet der historischen Kulissen nicht nur im Diesseits ab, sondern wird von den Menschen selbst entfacht.
Um den Boden für seinen Historien-Horror zu bereiten, öffnet Ketchum mit "Die Schwestern" zunächst die Augen für die ´Vorgeschichte´ der USA. Bevor diese 1776 unabhängig wurden, erforschten, besiedelten und beraubten europäische Siedler Nordamerika (und den Südkontinent natürlich ebenfalls) bereits seit über 250 Jahren. Die Ureinwohner beider Amerikas blickten auf eine Geschichte zurück, die viele Jahrtausende in die Vergangenheit reichte - Raum und Zeit für eigenständige und üppige Dämonen-, Geister- und Monster-Dynastien gab es also mehr als genug.
Damit verbanden sich Erinnerungen an Menschenopfer, Kriegsgräuel und andere Grausamkeiten, die sich die Menschen gegenseitig antun. Folgerichtig fällt es Ketchum leicht, die phantastischen Elemente zu dämpfen. Er erspart uns Quetzalcoatl & Co., die aus dem Götterhimmel springen und von unseren Cowboys mit einem Kugelhagel empfangen werden. Ketchum geht viel einfacher, raffinierter und heimtückischer vor. In dieser bizarren Geschichte stecken durchaus übernatürliche Aspekte. Der Autor lässt sie jedoch wie nebenbei einfließen, wodurch sie wesentlich eindringlicher wirken.
Überforderte Gringos in feindlicher Fremde
Ketchum hat das Terrain für sein Garn nicht nur gut gewählt, sondern auch perfekt vorbereitet. Das mexikanisch-amerikanische Grenzland lag 1848 noch jenseits einer "american frontier", die in voller Bewegung war. Obwohl Siedler von Osten und Westen in den Kontinent vordrangen, gab es weiterhin Regionen, die völlig unerschlossen waren. Recht und Gesetz blieben fromme Wünsche.
Mehr als einmal nimmt Ketchum Bezug auf den Krieg zwischen Mexiko und den USA, eine erbitterte, auf beiden Seiten von Brutalität und Unmenschlichkeiten geprägte Auseinandersetzung. Sie bereitet den Boden für den ´realen Horror´, dem Ketchum den Vorzug gibt. Wenn die Valenzura-Schwestern die phantastische Seite der Furcht verkörpern, ist Paddy Ryan das Produkt einer grausamen Wirklichkeit.
Erbarmen ist Schwäche
Auf ihre Weise sind auch John Charles Hart und William T. Bell Opfer. Beide haben sie am Krieg teilgenommen, haben Opfer bringen müssen und leiden unter den Folgen. Anders als Ryan haben sie das Grauen nicht angenommen und verinnerlicht. Zumindest Hart ist genretypisch jedoch tiefer gezeichnet, als der verschlossene Mann sich anmerken lässt: Sein finaler Amoklauf wirkt kaum überraschend.
Zu den bitteren Zutaten, aus denen Ketchum seine Horror-Suppe bereitet, gehört der allgegenwärtige Rassismus. Zwar rettet Hart die den Valenzuras entflohene Elena, aber er achtet sie nicht oder verachtet sie sogar. Als ´Begründung´ nennt er einmal seine Kriegserlebnisse, was Elena nicht gelten lässt. Sie dringt zum Kern unter den Ausflüchten durch: Mexiko ist die Beute dessen, der sie sich nehmen kann. Das schließt nicht nur das Land und seine Bodenschätze, sondern auch seine Bewohner und hier vor allem die Frauen ein. Nicht nur die USA mischen - mal verschämt, mal verlogen - in diesem schmutzigen Spiel mit. Die mexikanische Regierung ist korrupt und macht gemeinsame Sache mit denen, vor denen sie ihre Bürger schützen sollte. Ketchums scheinbar simple Story beinhaltet eine Menge Subtext.
Novelle oder Luftballon?
Was seine Novelle freilich nicht hergibt, ist ihre Erhöhung zum ´richtigen´ Buch. Die literarische Form und der Seitenumfang verhindern es. Das eine lässt sich ignorieren, das andere buchstäblich bemänteln: Der eigentliche, an sich schon durch großzügige Absätze und Leerseiten in die Länge gezogenen Haupttext umfasst gerade 75 Seiten. Hinzu kommen ein Vorwort des Verfassers, ein Interview, das Christian Endres mit Ketchum geführt hat, und ein Nachwort, in dem ebenfalls Endres über Jack Ketchum und sein Werk informiert.
Dieses Beiwerk ist interessant für Leser, die gern einen Blick hinter die Kulissen der gerade gelesenen Geschichte werfen und ihren Verfasser besser kennenlernen wollen. Dennoch bleibt die Tatsache, dass "Die Schwestern" ein kaum hundertseitiges Büchlein ergeben. Hier gilt es an den alten aber weisen Spruch "Klasse statt Masse" zu erinnern.
Die dicken Ketchum-Brocken - seine Romane - hat sich der Heyne-Verlag geschnappt. Für die ´Kleinen´ bleiben die Brosamen. Ein "Ketchum" ziert derzeit jedes Verlagsprogramm. "Die Schwestern" stellen ganz sicher kein Abfallprodukt dar. Den Leser erwartet ein ´echter´ Ketchum. Dafür muss er jedoch einen Preis entrichten, für den er sonst ein ´richtiges´ Buch erwerben kann. Bleibt zu hoffen, dass es über den Unterhaltungswert der Geschichte und die zugelieferten Infos hinaus mit ihren weiteren Pfunden wuchern kann: der sorgfältigen und lesenswerten Übersetzung und dem schlichten aber ´handgemachten´ Cover eines handwerklich hochwertigen Paperbacks.
Jack Ketchum, Atlantis
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