Reckless (1) - Steinernes Fleisch
- Dressler
- Erschienen: März 2020
- 6
Bildreiche Funke-Geschichte in Märchenmantel
Jacob Reckless entdeckte als Kind einen Spiegel im Zimmer seines verschwundenen Vaters, der in eine märchenhafte Welt führt. Immer wieder verschwindet er dorthin und baut sich dort in den folgenden Jahren ein zweites Leben auf. Er wird regelmäßig als Artefakt-Jäger (zum Beispiel für ein Tischlein-deck-dich) engagiert und hat einiges an Vermögen und Erfahrung gesammelt und Freunde unter Feen, Gestaltwandlern und kaiserlichen Bediensteten gefunden. Allerdings blieb durch seine häufige Abwesenheit, die er durch Reisen erklärte, das Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Will und seiner inzwischen verstorbenen Mutter distanziert. Als Will dann den geheimen Durchgang entdeckt, wird er prompt angegriffen und seine Haut beginnt zu Jade zu versteinern. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Jacob will Wills Versteinerung rückgängig machen, bevor dieser seine Persönlichkeit völlig verliert. Aber der König der Goyl und eine mächtige dunkle Fee haben ganz andere Pläne für Will, denn offensichtlich verwandelt er sich in den mythischen Jade-Goyl, auf den sie schon lange hoffen.
Grimmsche Märchen stehen Pate
Die Parallelwelt ist im wahrsten Sinne märchenhaft: schön, bunt, voller unterschiedlicher zauberhafter Wesen, aber es drohen auch Düsternis, Flüche und Gefahren. Da glaubt man sich wirklich in der Kulisse eines Grimmschen Märchens wieder zu finden. Auch viele der Wesen, die die Welt hinter dem Spiegel bevölkern, sind entliehen. Da gibt es Feen und Hexen, Zwerge und Meerjungfrauen genauso wie Knusperhäuschen, Gold tragende Bäume und Rapunzelhaare. Allerdings spielt der Inhalt der Märchen selbst keinei Rolle in "Steinernes Fleisch". Die entworfene Welt als Hommage an Grimm bildet nur den Rahmen und die Kulisse für die Geschichte in gewisser Tinten-Manier, aber das ist sehr schön gelöst.
Jacob ist ein in sich zerrissener, verschlossener Mensch, der immer noch mit dem Verschwinden seines Vaters hadert und damit, dass er ihn nicht gefunden hat und der versucht, als einsamer Wolf möglichst niemanden an sich heran zu lassen. Die Melancholie, die ihn umgibt, nimmt sicher manchen Leser für ihn ein und nicht nur die Gestaltwandlerin Fuchs, die ihm wie ein roter Schatten folgt. Allerdings erinnert er schon sehr an Staubfinger.
Vieles wird nicht erklärt. Seltsam zum Beispiel ist, dass Jacobs und Wills Mutter einfach so hinnahm, dass ihr Mann verschwand und weder Nachforschungen noch Ermittlungen der Polizei stattfanden. Dass ist ähnlich realitätsfern, wie bei Tintenwelt die unbemerkte Übernahme der italienischen Dörfer durch Capricorn.
Es ist bekannt, dass Funke "Reckless" von Anfang an zusammen mit einem Filmproduzenten entwickelte und das merkt man. Die bildreichen Szenen schielen stark nach einer Verfilmung. Weniger kraftvolle Bilder und dafür schlichtweg mehr Story und Innensicht hätte "Reckless" gut getan. Das Buch ist mit vielen Bleistiftzeichnungen der Autoren illustriert, sehr passend und stilvoll. Aber dadurch hat man noch mehr den Eindruck, dass es weniger Buch als Vorform eines Films ist.
Knappes Buch mit Pathos
Der Stil ist typisch Funke. Knappe, kurze, einfache, aber poetische Sätze mit einigen typischen Adjektiv-Wiederholungen a la "Er ist schön, so schön." Tief greift Funke in die Pathos-Kiste: egal ob es um Verlust geht oder Ehre, um die schwer wiegende Verantwortung des großen Bruders oder die angedeuteten Zweifel von Clara an ihrer Liebe. Leichtigkeit und Spaß verbreitet das Buch nicht, alles ist sehr schwerwiegend und sehr ernsthaft. Charme, Humor und ein Augenzwinkern hier und da sucht man vergebens. Aber das ist auch nicht Funkes Art. Die Kapitel selbst sind äußerst kurz und mit der großen Schrift sehr schnell ausgelesen. Es bleibt ein wörtlich kurzweiliger Ausflug in das Land der Kindheit, mit Weggefährten, die einem sicher wieder einmal begegnen werden, denn für einen zweiten Teil ist das Ende offen genug. Aber vielleicht ist die Adaption für die Leinwand schneller. Man wird sehen.
Cornelia Funke, Dressler
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