Der verliebte Dschinn
- Insel
- Erschienen: Januar 1995
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Was sich Frauen wünschen
Die renommierte Narratologin Dr. Gillian Perholt nutzt eine Einladung zur Konferenz "Geschichten vom Leben der Frauen" in Ankara, um sich das Land näher anzusehen. Bei einem Besuch des Anatolischen Völkerkundemuseums dient sich ihr ein "alter Seefahrer", ein gestandener Mann mit Schaffelljacke und Glatze, als Führer an und erzählt ihr neben Geschichten über die Hethiter und Mesopotamier, Babylonier und Sumerer auch die todtraurige Geschichte von Gilgamesch und Enkidu. Professor Orhan Rifat, ihr türkischer Freund, Kollege und Ex-Kommilitone aus Oxford, vermutet, dass es sich bei dem alten Seefahrer um einen Dschinn gehandelt hat. Gillian besucht mit Orhan und zwei türkischen Wissenschaftlerinnen namens Leyla die historienumwobenen Städte Smyrna und Ephesos, wo die zwei Statuen der Artemis und die Geschichte über die Königin von Saba besonderen Eindruck hinterlassen. Vor der Statue der Artemis darf sie sich etwas wünschen, weil sie zwischen zwei Frauen gleichen Namens steht. Sie weiß, dass der Wunsch nicht töricht sein darf, sonst wendet er sich gegen sie, also wünscht sie klug. Beim Anblick der eindrucksvollen Artemis überkommt sie ein Schwächeanfall wie schon in Ankara während ihres Vortrages über die geduldige Griseldis von Chaucer. Beide Male ist es eine befremdliche Konfrontation mit ihrem eigenen Leben, ein Eingeständnis der eigenen Schwäche, Bedeutungslosigkeit und Gewissheit des Todes. Zwar ist sie gesund, aber sie ist fett geworden und hat einige Falten.
In Istanbul, Orhans Heimatstadt, hat sie in der Hagia Sofia, einem Ort des Zusammentreffens und Zusammenstoßens der verschiedensten Kulturen, ihre dritte Begegnung mit dem Schicksal, diesmal in Gestalt eines fundamentalistischen Pakistani, der sie für Orhans schweigsame muslimische Ehefrau hält und sich über die Verrottetheit Londons und des Commonwealth auslässt. Auf dem Bazar ersteht Gillian eine kleine verstaubte Flasche, die, als sie sie im Hotel wäscht, in blauem Licht erstrahlt und sich bewegt. Der Korken springt heraus und ein guter Dschinn entwindet sich dem engen Gefäß. Seit 1850 war er in der Flasche gefangen. Er gewährt Gillian drei Wünsche. Sie wünscht, dass ihr Körper so wird, wie er war, als sie ihn zum letzten Mal gemocht hat. Schon sieht sie aus wie mit 35 Jahren. Während sie sich ihre nächsten Wünsche überlegt, lässt sie den Dschinn seine Geschichte der drei Gefangenschaften erzählen, die vor dreitausend Jahren zur Zeit der Königin von Saba begann. Es ist die Geschichte seiner Begegnungen mit Frauen, eine verführerische Geschichte, die Gillian zu ihrem zweiten Wunsch, der Dschinn möge sie lieben, verleitet.
Eine Frau Mitte fünfzig
Die Protagonistin Gillian ist Mitte fünfzig, hat zwei erwachsene Kinder, die mit ihren Familien im entfernten Ausland leben, und einen Ehemann, der sie vor einiger Zeit wegen einer Jüngeren sitzengelassen hat. Sie hat keine Funktion mehr als Geliebte, Ehefrau, Mutter oder Großmutter. Byatts Heldin ist allein, ein Privatleben gibt es nicht. Die Arbeit ist alles für sie, die Reisen, die damit verbunden sind, die beruflichen Kontakte. Ihr Leben erscheint trübe und armselig, ohne Sehnsüchte, ohne Wünsche, banal. Hinzu kommt, dass sie ihren Körper seit Jahren nicht mehr im Spiegel betrachten mag, weil sie sich wie ein fettes Fleischpaket vorkommt.
In den meisten Geschichten wäre kein Platz für eine Gillian Perholt. Was geschieht, wenn eine Wissenschaftlerin auf einen Dschinn trifft und drei Wünsche frei hat? Was kann sich eine Frau wie Gillian wünschen? Etwa Boris Becker, wie der Dschinn vorschlägt, dessen athletischen Körper sie im Fernsehen bewundert? Wie findet sich ein Dschinn in unserer modernen Welt zurecht? Und was geschieht, wenn er sich verliebt? Der Roman erzählt mehr als die Geschichte einer Frau.
Die Welt der Geschichten, die Welt der Frauen
Byatt erzählt in ihrem Kurzroman die Geschichte einer modernen Frau im Gewand eines Märchens. Darin webt sie geschickt eine Textur aus Geschichten über das Erzählen und aus der Welt der Mythen, Märchen, Religion, Dichtung, moderner Realität: Chaucers geduldige Griseldis, Shakespeares Hermione, Prinz Kamarelzaman und Sheherazade, Boris Becker, eine Äthiopierin. Sie alle fügen sich nahtlos in den Text ein, denn bei aller Vielfalt haben sie einen gemeinsamen Nenner, die Misogynie. Sie ist die Antriebskraft prämoderner Geschichten. Frauen werden in der Mehrzahl als dumm und duldsam dargestellt, oft auch als gefährlich, wenn sie mittels der Strukturen von Machtlosigkeit Macht ausüben. Selten sind sie mächtig, beispielsweise als Zauberinnen, Hexen, Ghule oder Göttinnen. Misogynie ist das Fundament gewisser Kulturen. Was wünscht sich die aufgrund ihres Frauseins zur Passivität, zur Duldsamkeit verurteilte Äthiopierin?
Byatt ist eine brillante Erzählerin, die geschickt Betrachtungen ihrer Protagonistin über Einsamkeit, Liebe und Tod, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, Begegnung und Trennung zu einer großen Geschichte verknüpft und den Leser durch die Leichtigkeit ihres Stils, genaue Bebachtungen und eine Fülle an Details in den Bann zieht.
"Der verliebte Dschinn" ist ein Kurzroman, intelligent konstruiert und witzig-lebendig geschrieben, gerichtet an Leser mit einem Faible für phantasievolle, literarische und politische Lektüre.
Antonia S. Byatt, Insel
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