Die Stadt und ihre lebenden Toten
Benjamin Harthman hat sich das Totsein wahrlich anders vorgestellt. Aber "Die Stadt" empfängt ihn nach seinem Verkehrsunfall doch ziemlich lebendig. Ohne einen Schimmer, wie er hierher gelangte, bleibt Ben nichts anderes übrig, als das Geheimnis dieser Totenstadt zu ergründen. Ein Geheimnis, - man ahnt es -, das der große Aufhänger dieser Geschichte ist. Brandhorsts Mystery-Roman steigert sein Tempo nach einem verhaltenen Start merklich und wird schließlich zu einem actionreichen Thriller, an dessen Ende eine nette Überraschung auf den Leser wartet. Die wird hier natürlich nicht verraten.
Die Toten leben...
Bens Erinnerungen an sein Vorleben sind wenig präzis, genauer gesagt belässt Brandhorst vieles ´elegant´ im Dunkel des Vergessens seines Protagonisten, so dass die Ausgangslage richtig geheimnisvoll ist. Obwohl Ben tot ist, fühlt er sich körperlich munter und wundert sich, dass selbst den Toten Empfindungen wie Hunger, das Bedürfnis nach Schlaf, sogar Schmerzen nicht fremd sind. Und genauso wunderlich ist die Stadt, die keinem realen irdischen Vorbild nachempfunden zu sein scheint. Selbst gewisse Gesetze der Vernunft haben hier keine Bedeutung. Doch was ist dieser Ort? Ist er das Paradies oder die Hölle?
Auch Louise, der erste Mensch, dem Ben begegnet, weiss wenig über die Metropole zu berichten. Stattdessen führt sie ihn den Mitgliedern der ´Gemeinschaft´ vor, die unter der Führung des charismatischen Oberhaupts Hannibal stehen. Der ist der Meinung, dass die Stadt ein Purgatorium, also eine Vorhölle darstellt, wo sich die Waagschale der Gerechtigkeit entweder zugunsten oder zu Ungunsten einer ´Seele´ neigen kann. So versuchen die Mitglieder dieser Pseudo-Religionsgemeinschaft sich das Schicksal mit guten Taten geneigt zu machen, um irgendwann ins Paradies eingehen zu können. Das setzt natürlich die Milde einer höheren Instanz oder eines Gottes voraus.
Andere Bewohner der Stadt teilen Hannibals Ansicht nicht und bevorzugen ein eher anarchistisches ´Leben´. Die ´Streuner´ glauben nämlich nicht, dass es sich bei der Stadt um eine Zwischenstation für unentschiedene Seelen handelt, die ihr Los erwarten. Sie bezweifeln, dass ein gerechtes Leben oder begangene Sünden überhaupt irgendetwas mit diesem Jenseits zu tun haben. Und auch Benjamin überwirft sich bald mit Hannibal und dessen strengen Moralvorstellungen und wird schliesslich von der Gemeinschaft verstossen. Nicht weiter schlimm, den Frömmlern zu entkommen, doch mit dem Verlust der Zugehörigkeit zu Hannibals Gemeinschaft verliert Ben auch den Zugang zum ´Supermarkt´, einer mysteriösen und gleichzeitig unerschöpflichen Quelle für Nahrung und Konsumgüter, ohne die sich das Überleben in der Stadt schwierig gestaltet. Doch Benjamin ist eine typische ´Erlöserfigur´, die dank ihrer Intuition durch die Geschichte geführt wird und wenig auf die Meinung anderer gibt. So stolpert Ben auf seiner existenziellen Quest quer durch die Stadt, und die Geschichte lässt ihn die schmerzliche Erfahrung machen, dass man auch im Leben nach dem Tod noch weitere Male sterben kann. Was Ben antreibt, wird allerdings auf den ersten paar hundert Seiten nicht klar. Ist es der Wunsch, etwas über den Zweck der Stadt zu erfahren? Ist es die Frage nach Bens eigenem Schicksal? Oder will er einfach die Stadt verlassen, wie es ihm eine Stimme mehrfach einflüstert? Eine weitere Frage, die am wenigsten Ben selber beantworten kann, lautet: Wer ist der Architekt dieser Stadt? Sind es Ausserirdische, die mit ihren Entführungsopfern ein Experiment betreiben? Oder ist es das Gefängnis eines perversen Gottes, der sich einen üblen Scherz mit den Seelen erlaubt? Rätsel um Rätsel, und der Autor präsentiert uns so viele Meinungen wie Köpfe. Aber so richtig spannend wird die ganze Sache nicht, da sich auch dem Leser keine Ziele auftun, denen er gemeinsam mit dem Protagonisten entgegenfiebert.
Geheimnisse, Mysterien, Rätsel über und über...
Als ob die seltsame Stadt der Toten nicht schon fantastisch genug wäre, kommt bald noch ein lebendiger Nebel dazu, der in einem ´Gezeitenwechsel´ die Stadt mit boshaften Kreaturen überschwemmt. Und ein geheimnisvolles ´Loch´, das in eine unbekannte Tiefe mündet, ein Labyrinth, das aus der Stadt führen soll und sogenannte ´Schatten´,- Wesen, die bei einer Berührung den wiederholten Tod bringen. Ein weiteres Mysterium ist die Zeit, die in der Stadt offenbar verrückt spielt. Brandhorst versammelt in seinem Roman einfach mal grosszügig, was den Nimbus des Geheimnisvollen besitzt und lässt das ein wenig wirken, indem er seinen Helden blind durch die Stadt tappen lässt. Tatsächlich ergibt das alles am Ende auch einen Sinn, dennoch wirkt das Buch ein bisschen überfrachtet mit Ideen. Die Geschichte orientiert sich dabei visuell an einigen Werken der Weltliteratur, von Dante über Kafka bis hin zu Kasacks ´Die Stadt hinter dem Strom´, aber auch an stilbildenden Filmen wie ´Dark City´´ Matrix´ oder denen von David Lynch, ohne dabei den düster-schrägen Reiz der genannten Werke zu entfalten, leider. Die Geschichte bleibt gewissermassen etwas leichensteif in der Hüfte.
Zwischendurch gibt's aber doch ein paar schöne Stellen. Etwa die, bei der die Frage aufkommt, welche Sprache denn im Jenseits gesprochen wird. Ist es nicht komisch, dass Benjamin plötzlich Norwegisch versteht, das er nie gelernt hatte? Ist die Sprache des Jenseits demnach eine allgemein verständliche? Leider sind solche witzigen und gleichzeitig tiefgründigen Stellen viel zu selten, stattdessen vergisst der Autor nie, auf jeder zweiten Seite darauf hinzuweisen, wie seltsam und mysteriös diese Stadt doch sei, ohne dabei wirklich viel für diese Stimmung zu tun. Jede normale irdische Stadt verändert sich ja auch ohne metaphysisches Zutun, allein durch Menschenhand, so dass das ganze Geschwafel von mysteriösen Veränderungen bald langweilt. Dazu kommt das Gefühl, solche Szenen andernorts schon origineller gelesen zu haben. Brandhorst zitiert auch munter Dante Alighieri, Byron und Shelley, doch irgendwie nimmt man es Benjamin kaum ab, dass der eine Leseratte gewesen sein soll. Ebenfalls schlecht nachvollziehbar fand ich Bens Begeisterung für Waffen aller Art. Dennoch erweisen sich Waffen letztlich nützlicher als Bücher, denn den Parteien der Stadt geht es in erster Linie um die Eroberung des Supermarktes und somit ums Überleben.
Townsends Spiel?
Bald taucht ein Name in Bens Bewusstsein auf, der der Geschichte einen neuen Aspekt beifügt: José Maria Townsend. Ein irrer Wissenschaftler, der ein psychologisches Experiment an seinen Patienten durchführt? Bens Träume überzeugen ihn immer mehr davon, dass der Anstaltsleiter für sein Schicksal verantwortlich ist und er macht sich daran, Townsend aufzuspüren. Als Ben versucht, mit einem Heissluftballon die Stadt zu verlassen, stürzt er zusammen mit Louise ab, nur um darauf hin erneut in der Stadt zu landen. Ein Ausweg steht nicht in Aussicht. Lässt es etwa die gigantische Maschine nicht zu, die im Untergrund der Stadt waltet und schaltet?
Dass "Die Stadt" im letzten Drittel zu einem ´Mindgame´ wird, tut der Geschichte gut und endlich dämmert in diesen Passagen auch das Verständnis herauf, was es mit der Stadt und ihren Menschen auf sich haben könnte. Die Frage, wie ´real´ denn die Stadt ist, bewirkt durchaus Spannung, die am Anfang über weite Teile vermisst wird. Und mit Townsend (wortmalerisch für das Ende der Stadt?) bekommt die Geschichte endlich den Antrieb, der die letzten hundert Seiten durch die Konfrontation von Ben mit seinem Antagonisten packend gestaltet.
Leider ist "Die Stadt" sonst über weite Strecken etwas langatmig geraten. Gerade von einer Jenseits-Fantasie erwarte ich mehr Exotik und Tiefgang. Den Effekt der Verfremdung setzt Brandhorst zu wenig und zu zaghaft ein. Ich hatte ein Stück beklemmende Traumliteratur erwartet, stattdessen bekommt man ´traumkino´-artige Gemeinplätze aufgetragen, die zwar gut unterhalten, aber nicht hängen bleiben. Eine bedrohliche, surreale Stimmung kommt selten auf. Der ganze Roman orientiert sich eher am Spannungsbogen eines Thrillers, mit vielen grossen Gesten und Geheimniskrämereien, die die Handlung oft an die Grenze des Lächerlichen rücken. Aber ohne Figuren mit Ecken und Kanten, die dem Ganzen ein ´Gesicht´ verleihen, bleibt es eine fade Sache. Benjamins Schicksal lässt einen über weite Strecken gleichgültig, weil es der Roman nicht schafft, ein echtes Profil eines Menschen zu zeigen, der über sein gelebtes Leben hinaus eine ´übersinnliche´ Erfahrung gemacht hat: nämlich die des Sterbens.
Andreas Brandhorst, Heyne
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