Galatea 2.2
- Fischer
- Erschienen: Januar 2000
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Pygmalion im digitalen Zeitalter
Der Schriftsteller Richard Powers kommt nach einer langjährigen Beziehung mit C. aus den Niederlanden zurück an seine alte - "U." genannte - Universität in Michigan. Die anglistische Fakultät finanziert ihm ein Schreibstipendium. Er lernt den Informatiker Philip Lentz kennen, dessen Forschungsgebiet die künstliche Intelligenz ist. Philip lehnt den Literaturbetrieb ab und wettet mit Kollegen, er könne einen Computer entwickeln, der fähig sei, literarische Texte zu untersuchen und eine anglistische Magisterprüfung zu bestehen. Richard soll den Computer mit Literatur füttern und ihn "ausbilden". Nach einigen erfolglosen Implementationen gelingt die Konstruktion eines Computers, der bald wie ein Mensch kommunizieren kann. Richard nennt ihn Helen. Die Gespräche zwischen Richard, Philip und dessen Kollegen darüber, ob Helen menschliches Denken nur simuliert, führen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Richard speist in Helen kanonische Literatur und Informationen über Tagesereignisse ein. Als er ihr aus seinem Leben erzählt und ihr persönliche Briefe vorliest, entsteht zwischen beiden eine seltsame emotionale Beziehung.
Die drei Hauptfiguren
Richard Powers ist der Name des Verfassers von Galatea 2.2 und der Hauptfigur im Roman selbst. Das schriftstellerische Werk beider stimmt überein, des realen Powers' Romane werden dem fiktionalen Powers zugeschrieben. Richard ist 35 Jahre alt, glaubt, sich nicht weiterzuentwickeln und landet folgerichtig in einem Kreisschluss wieder an seiner alten Alma mater. Er leidet an einer Schreibblockade und durchlebt eine persönliche Krise nach der Trennung von seiner langjährigen Freundin C.
Der hervorragende und arrogante Informatiker Philip Lentz hat die Neigung, Kollegen mit seinem Sarkasmus zu verletzen. Durch seine Frau, die mit einem Gehirnschaden zum Pflegefall wurde, hat er Zugang zur Literatur bekommen. Philip betreibt seine Forschungen in der Hoffnung, das menschliche Gehirn besser verstehen zu können. Helen ist genau genommen kein Einzelplatzrechner, sondern ein über 65.536 Computer verteiltes Netzwerk - eine Art Skynet ("Terminator") für Informatiker und Literaturwissenschaftler. Nur die Ambitionen von Skynet sind ihr fremd. Durch Richards Ausbildung entwickelt sie menschliche Eigenschaften.
Helen ist eine Maschine, eine Ausdrucksform künstlicher Intelligenz, die (vielleicht) Bewusstsein entwickelt und über humanistische Sozialisierung ein quasi-menschliches Wesen wird. Wir werden hier erinnert an den Star-Trek-Kosmos, der immer wieder mal die Frage stellt und bisweilen auch zu beantworten versucht, was Leben ist, und ob Sein, das nicht auf Kohlenstoff basiert, eine Lebensform ist. Weitere wichtige Bezugspunkte sind Frankenstein und, mehr noch, der Pygmalion-Mythos. Richard und Philip als heutige Geistesverwandte Pygmalions kreieren eine moderne Galatea. Die antike Galatea war noch eine Statue, die zum Leben erweckt wurde. Die Version 2.2 des Zeitalters der künstlichen Intelligenz ist eine Maschine. Zwischen Pygmalion und Galatea besteht ebenso eine obsessive Beziehung, wie zwischen Richard und Helen. Aber Helen vollzieht ihre Entwicklung, anders als Galatea, nicht bis in die letzte Konsequenz.
Spät im Roman zeigt sich, dass Richard nicht nur Pygmalion ist, sondern im Verhältnis zu Philip auch eine andere Figur. Welche, dies wird beim Lesen offensichtlich und soll hier nicht vorweggenommen werden, da der Hinweis zu viel preisgeben würde.
Wer oder was ist Helen?
Helen saugt begierig alle Informationen auf, die sie erhält, richtet Archive ein, die sie wieder und wieder durchforstet, wenn sie über bestimmte Dinge nachdenkt und Zusammenhänge herstellt. Sie lässt sich Musik vorspielen und singt irgendwann selbst. Sie hat Erinnerungen, die sich auf Inhalte beziehen, die in ihren Vorgängerversionen abgelegt sind.
Die großen Schwierigkeiten für die Wissenschaftler liegen darin, zu erfahren, wie es sein und was es bedeuten könnte, Helen zu sein. Die äußerste mögliche Erfahrung ist eben nur die, eine Vorstellung davon zu erlangen, wie es aus menschlicher Sicht sein könnte, Helen zu sein. Dieses Problem schwingt in Gesprächen der Wissenschaftler über Helen mit.
Das Verhältnis von Richard und Helen ist auch eins zwischen einem Autor und Lesern, und der Text lässt sich ohne große Anstrengung unter diesem Aspekt verstehen. Auf dieses Verhältnis deutet schon die namentliche Übereinstimmung der Hauptfigur mit dem Verfasser des Romans hin, wobei vermutlich nicht darauf hingewiesen werden muss, dass trotz vielleicht vorhandener autobiografischer Informationen der Roman nicht autobiografisch gelesen werden sollte.
Ein komplexer Roman
Powers erzählt uns in einfachen Worten und in überwiegend kurzen Sätzen eine über die verschiedenen Erzählebenen komplizierte Geschichte. Das postmoderne Spiel mit der Intertextualität und Metafiktion gehört zur Grundausstattung der Erzählung. Das mag man alles reizvoll finden oder nicht. Sehr gut ist der Roman aber dort, wo es um das Erinnern und das Vergessen geht, das beides Vorteile wie Nachteile hat und die beiden Erzählstränge zusammenführt. Philip gibt Richard den Kosenamen Marcel. Vielleicht, weil Richard - wie Proust - auf der Suche nach Erinnerungen und der Auseinandersetzung mit dieser Suche wie auch den Erinnerungen selbst ist.
Der technische Handlungsstrang hat bisweilen Sachbuchcharakter, wartet z.B. mit längeren Erklärungen zu neuronalen Netzwerken oder zur Verwendung von Spracherkennungssoftware auf. Der zweite Erzählstrang hat Richards Erinnerungen an seine Zeit mit seiner Geliebten C. zum Thema. Beide Stränge erscheinen spiralförmig miteinander verbunden und wirken mitunter gering homogen und harmonisch. Manche technischen Ausführungen sind recht umfangreich geraten, während das eine oder andere zentrale technische Motiv, obwohl für das Verständnis wichtig, nur angedeutet wird. Der Test von Alan Turing und Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung sind grundlegend für das (tiefere) Verständnis von Galatea 2.2.
Es gibt vielfältige Verknüpfungen, wie die Sprachprobleme Helens mit denen Richards in den Niederlanden. Die Erinnerungen an C. wirken in ihrem starken thematischen Bezug zur erzählerischen Gegenwart bisweilen artifiziell. Sie werden weitestgehend mit Werkzeugen rekonstruiert, die auch in dieser Gegenwart verwendet werden.
Powers' Roman ist komplex und nur vordergründig leicht zu lesen. Wer will, kann ihn als eine Variation des Mythos lesen, ohne sich auf seine Tiefenschichten einzulassen. Dabei wird man vermutlich ganz gut unterhalten. Wer sich intensiver auf ihn einlässt, dürfte einiges mehr mitnehmen, muss es aber mit dem Ausruf von Hape Kerkeling halten: es ist "Arbeit, Arbeit, Arbeit!"
Richard Powers, Fischer
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