Secondhand Nightmares
- Lindenstruth
- Erschienen: Januar 2009
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Alpträume aus dem KZ
Grodbeck ist ein unauffälliger Pensionär, der seinem Umfeld gegenüber stets Etikette bewahrt. Der nette alte Nachbar von nebenan? Nicht ganz, denn Grodbeck hat eine dunkle Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die in seinem beschaulichen Rentner-Abend kaum mehr Platz einnimmt als Erinnerungen an eine lästige und längst überwundene Kinderkrankheit.
Auf mehr oder weniger subtile Weise tastet sich Sembten an die Nazi-Zeit seines Protagonisten heran, bis letzterer schliesslich von den Visionen aus der Vergangenheit überwältigt zu werden droht. Dem rüstigen Greis darf aber zuvor noch die engelhaft-adrette Nachbarin Karin ins Auge fallen, die ihm "bestes Erbgut" verspricht. Ob man das dann komisch finden darf...? Und auch Karin empfindet dem älteren Herrn gegenüber eine kindliche Zuneigung, die sie veranlasst, ein wenig nach ihrem Nachbarn zu schauen. Der alte Herr Grodbeck kommt ihr zunehmend etwas verwirrt vor. Aber man ahnt natürlich, dass sich da keine Romanze anbahnen wird.
Grodbeck kann sich den erlebten Gräueln in den Konzentrationslagern nicht länger entziehen. Es muss schliesslich hochkommen, was da jahrelang in seinem Inneren gärte. Dabei schien er sich so bequem mit seiner Vergangenheit arrangiert zu haben, nämlich, indem er sie ganz einfach ausklammerte. Aber Ursache für seine Albträume ist nicht etwa späte Reue oder der Umstand, dass sich der Mensch am Ende seines Lebens vielleicht noch einmal besinnt und zurückschaut auf seine Taten, bevor er dem Tod entgegentritt. Dafür ist dieser Grodbeck ein viel zu eingefleischtes Monstrum der Gleichgültigkeit. Es ist vielmehr ein magischer Gegenstand aus einem neuen Laden namens "Secondhand Nightmares" (Stephen Kings Needful Things lässt grüssen), der ihm auf die Sprünge hilft und seine unfreiwillige Vergangenheitsbewältigung ermöglicht. Und selbst die gutmütige Karin kann Grodbeck nicht mehr dem Sog des Albtraumes entziehen, der letztlich vielleicht so etwas wie Gerechtigkeit einfordert...
Pulp vs. Holocaust: eine geniessbare Mischung?
Die Novelle ist eine überarbeitete und erweiterte Version der Erstausgabe von 1998 (Medusenblut, Heft 4) in einer düsteren bibliophilen Ausgabe. Auffallend ist der schlichte Schutzumschlag des Buches, der vom Autor selber gestaltet wurde und einen weissen Haarzopf auf schwarzem Grund zeigt. Vielleicht ein Link zu Paul Celans "Todesfuge" (wohl das lyrische Vermächtnis des Holocaust), die auch im Text zitiert wird, und die somit das gewichtige Motto der Erzählung stellt. Den Abschluss bildet ein kurzes Nachwort von Robert N. Bloch.
Auch inhaltlich und sprachlich stimmt die Qualität des Büchleins. Sembten versteht sein Handwerk, er baut gekonnt einen Spannungsbogen auf und lässt den Leser immer wieder zweifeln an der Handfestigkeit der heraufbeschwörten Vergangenheit. Die Rückblenden in den Lager-Alltag wirken authentisch, ich denke, dass sich der Autor bewusst nicht auf die Äste der Fiktion hinauswagte, sondern genaue Recherchen betrieb.
Wenn auch die Novelle als leichte Art der Unterhaltung den lobenswerten Gedanken der Vergangenheitsbewältigung in sich trägt, wurde bei mir das Lesevergnügen durch das gewichtige Thema etwas geschmälert. Ich hatte Pulp erwartet und freilich auch etwas in diese Richtung vorgesetzt bekommen, nur, dass ich mich gleichzeitig noch mit dem Erbe des Holocaust auseinandersetzen musste, das meines Erachtens mit Unterhaltungsliteratur dieser Sparte nicht viel zu tun hat.
Wozu braucht es also Fiktionen, wenn die schlichte Wirklichkeit um einiges grausamer ist? Sicherlich ist ein unverkrampfter Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges auch ein Ansatz zur Bewältigung dieses Erbes. Bei mir hat "Secondhand Nightmares" aber einen etwas schalen Nachgeschmack hinterlassen. Letztlich überlasse ich die Frage den Lesern, ob man sich die echten Schrecken des Holocaust in einer solch unverbindlichen Verpackung der Populärkultur zumuten möchte.
Schliesslich wünschte ich mir für die junge deutschsprachige Horror-Literatur eigenständigere Visionen des Schreckens, die nicht den Unterton eines solch authentischen Leides mit sich tragen.
Malte S. Sembten, Lindenstruth
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