Lesefahrt im Märchencontainer
"Pigafetta" erzählt in der Form eines Märchens von einer Frau, deren Namen nicht genannt wird und die in den 1990ern von Hamburg aus eine Weltreise auf einem Containerschiff antritt. Weitere Passagiere sind ein britischer Geograph, das deutsche Maklerehepaar Happolati und ein französischer Klempner. In Charleston steigen die Hamburger Makler aus und ein Pfirsichzüchter aus Georgia kommt an Bord. Die neun Nächte der Erzählung verbringt die Heldin mit dem Geist des venezianischen Edelmanns Antonio de Pigafetta, der ihr von seiner Weltumsegelung vor rund 475 Jahren erzählt.
Ein historischer Hintergrund
Fernão de Magalhães, bei uns bekannt als Ferdinand Magellan, brach im September 1519 mit fünf Schiffen zu den Gewürzinseln auf und gelangte im Dezember an die südamerikanische Ostküste. Er schlug eine Meuterei nieder und entdeckte im Oktober 1520 die nach ihm benannte Magellanstraße, die im Süden Amerikas sich rund 600 km von der Ostküste zur Westküste erstreckt. Wenig später verlor er im Kampf mit Insulanern auf den Philippinen sein Leben. Von den fünf Schiffen kehrte nur eins zurück. Das war im Jahr 1522, und an Bord befand sich auch Pigafetta, der über die Reise ein Buch schrieb. Die Expedition brachte zwei wichtige Ergebnisse: Die Magellanstraße wusste nun, dass sie existiert, und einige Menschen erfuhren, dass die Erde keine Scheibe ist.
Eine weniger aufregende Gegenwart
Felicitas Hoppe folgt in "Pigafetta" dem Grundmuster des Märchens bzw. des Mythos, das mit dem Verlassen der Heimat beginnt, eine lange Fortsetzung in der Reise des Helden und in seiner Initiation findet, um schließlich mit der Rückkehr nach Hause zu enden. Da die Heldin keine spannenden Abenteuer wie zu Zeiten Magellans und Pigafettas erlebt, beschäftigt sie sich mit Dingen wie den technischen Daten des Containerschiffs und beobachtet sehr genau ihre Mitreisenden, die zwar Namen tragen, meist aber nach Eigenschaften benannt werden und nur grob gezeichnete Figuren sind. Nicht nur die Fahrt erweist sich als recht langweilig, die Mitreisenden sind auch nicht die großen Spannungserzeuger. Die wirklichen Abenteuer finden im Kopf statt, wo sie zugleich weniger gefährlich sind. Nur später und manchmal gibt es Aufregung. Ein Mann wird bei der Weiterfahrt vergessen und muss anderweitig aufschließen. Dem Pfirsichzüchter missfällt, dass kurz vor der internationalen Datumsgrenze ein Tag verloren geht, für den er im Voraus bezahlt hat. Der Geograph ist eine Schokoladensenke. Die Heldin bügelt voller Leidenschaft und sitzt mit einem Erzähler zusammen, der aus den alten Zeiten berichtet: dem Geist Pigafettas.
Auf der Suche nach Zwergen
Während einer auf der realen Ebene langweiligen Fahrt werden zugleich surreale und phantastische Erlebnisse beschrieben. Köche fangen Mäuse in ihren Mützen, servieren in Mützen gewickelte Ratten. In einer Nacht erschlägt ein Matrose einen Kollegen, der eine Ratte gejagt hatte, und wird vom Koch erschlagen. Der Generalkapitän bestattet die Leichen aufeinander liegend im Meer, die Ratte obenauf. Der Bootsmann versucht, das Meer anzustreichen. Personen sind zu Beginn auf dem Schiff, beenden ihre Reise unterwegs, sind später dann doch wieder an Bord. Manche Textteile werden in verschiedenen inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhängen verwendet. Die seltsamen Geschehnisse an Bord erhalten auf der Ebene des nicht-phantastischen Erzählens keine Erklärung.
Die chronologische Ordnung findet sich allein in den Kapitelüberschriften, die die Reise in neun aufeinander folgende Nächte unterteilen. Aber gegen Ende erfahren wir, dass es Lade- und Löschzeiten in zwanzig Häfen gab, bei einer durchschnittlichen Liegezeit von zwölf Stunden, was schwerlich in neun Tagen und Nächten unterzubringen ist. Die Erzählungen des Geistes sind ohne Nahtstellen mit den Geschehnissen an Bord und den Ausführungen der Heldin verknüpft. Was wann und wo geschieht, ob es überhaupt geschieht, das ist nicht immer eindeutig. Vielleicht sind die Ereignisse ohnehin nur Kopfgeburten der Heldin als Erzählerin, die ja auch die Autorin ist.
Die Fahrt, von der Pigafettas Geist erzählt, unterstand dem Kommando des Generalkapitäns Magellan. Der wollte 1519 nach Inseln suchen, "auf denen Zwerge mit großen Ohren leben, deren eines ihnen als Bett, das andere aber zur Decke dient. Sie leben, diese Zwerge, in Höhlen tief unter der Erde und fliehen kreischend, sobald sie einen Fremden erblicken". Am Ende sind die Zwerge ganz nah, nennen sich Menschen und decken sich die großen und vom Alltag gelangweilten Ohren mit den Worten der Erzählerin zu.
"Pigafetta" ist kein Roman, der sich (sinnvoll) zwischendurch oder auf die Schnelle lesen lässt. Man muss gewillt sein, sich Zeit zu nehmen. Dann jedoch kann er ein anregendes Vergnügen sein.
Felicitas Hoppe, Rowohlt
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