Unendlichkeit
- Heyne
- Erschienen: Januar 2001
- 5
Hard SF-Feinkost
Raum und Zeit sind die Ursuppe, aus denen Space Operas gemacht sind. Allzu oft allerdings verkocht in diesem Weltraumeintopf die wichtigste Sättigungseinlage: Die Charaktere der handelnden Personen. Und das schmeckt so fad wie Astronautenkost aus der Tube. Der Bücherkoch sollte hier also auf die Garzeit achten und auch kräftig mit Details würzen. Eben wie Alastair Reynolds in seinem Erstling "Unendlichkeit". Er kocht zwar nach klassischem Rezept und benutzt Zutaten wie riesige Raumschiffe, feindliche Aliens, menschliche Mutanten und entlegene Weltraumkolonien. Aber Reynolds greift ins Gewürzbord und raspelt reichlich Charakter über seine Figuren. Sie sind zum Entzücken des Lesers samt und sonders rücksichtslos und ziemlich selbstsüchtig.
Eben wie Dan Sylveste, Klon des legendären Calvin Sylveste, der einer der mächtigsten Männer auf dem prosperienden Planeten Yellowstone im Epsilon Eridani System. Calvin, selbst nur noch eine virtuelle Festplatten-Entität, bezeichnet Dan zu dessen Ärger als seinen Sohn. Dieser hat irgendwann die Nase voll von Yellowstone und macht sich um 2500 auf nach Resurgam, um dort in der von Schmirgelstürmen gebeutelten Atmosphäre nach den archäologischen Überresten einer Alien-Kultur zu graben.
Welches Schicksal droht der Menschheit?
Zwar sind der raumfahrenden Menschheit seit dem Verlassen der Erde ein paar fremde Rassen begegnet, aber längst nicht so viele, wie es selbst die konservativsten Rechenmodelle ergeben. Gemessen an der Anzahl lebensfreundlicher Planeten, müssten es mindestens ein paar Dutzend sein. Was die Menschen stattdessen vorfinden, sind die Überreste dieser Kulturen wie auf Resurgam. Dort lebten dort bis vor rund einer Million Jahren, bis sie plötzlich vom Planetenboden verschwanden - offensichtlich vernichtet von derselben kosmischen Katastrophe, die auch die anderen Aliengesellschaften ausgelöscht hat. Dan ist besessen von dem Wunsch, herauszufinden, was damals vor Urzeiten geschah. Und ob der Menschheit irgendwann dasselbe Schicksal droht.
Auf Yellowstone lebt die ehemalige Soldatin Ana Khouri als professionelle Killerin. Durch einen unwiderruflichen Fehler wurde sie nach ihrem letzten Militäreinsatz auf dem zehn Lichtjahre entfernten Sky's Edge in den Kühlschlaf versetzt und ins Epsilon Eridani System verschifft, und somit durch Zeit und Raum von ihrem Ehemann getrennt. In ihrer neuen Heimat wird sie eines Tages nach einer Exekution von der geheimnisvollen Mademoiselle kontaktiert. Ihr Auftrag für Khouri: Nach Resurgam reisen und dort Dan Sylveste zu erledigen, koste es, was es wolle.
Ebenfalls Kurs auf Resurgam will Ilia Volyova nehmen. Sie gehört als "Triumvir" zu den drei ersten Offizieren, die die "Sehnsucht nach Unendlichkeit", einer gigantischen gotischen Kathedrale von einem Raumschiff, befehligen. Die gesamte Crew besteht aus "Ultras", genetisch und prothetisch für extrem lange Reisen durch das All aufgerüsteten Menschen, die Cybord-mäßig effektiv handeln. Nur der Captain hat ein kleines Problem, er leidet an der Nano-Krankheit "Schmelzseuche". Der Name sagt hier bereits alles, und helfen kann nur Calvin Sylveste, den man aber ausschließlich im Doppelpack mit Klon Dan bekommt. Volyova benötigt außerdem einen neuen Waffenoffizier. Der letzte war aufgrund fortgeschrittenen Realitätsverlustes nicht mehr geeignet, die Bordbewaffnung der "Höllenklasse", echte Planetenpulverisierer und Raumzeit-Verschieber, zu kontrollieren. Khouri wird rekrutiert, mental eingenordet und für die jahrelange Reise nach Resurgam in die Kryobox gesteckt.
Dunkel, detailliert, dicht und organisch
Bis Reynolds diese drei Handlungsstränge zu einem verwebt, verlangt er seinen Lesern eine Menge Koordinationsarbeit ab. Wer nicht aufpasst und zu wenig am Stück schmökert, der kann leicht den Überblick verlieren, denn für die einzelnen Charaktere und ihre jeweiligen Handlungsfäden verwendet Reynolds oft nur wenige Seiten. Auch mit den Zeitperspektiven kann man durcheinanderkommen: Während Sylveste in der erzählten Jetzt-Zeit nach Alien-Artefakten gräbt, bereiten Khouri und Volyova zehn Jahre zuvor ihre Reise nach Resurgam vor.
Die galaktische Geschichte, die Reynolds entfaltet, verliert aber trotz ihrer Komplexität nur vereinzelt an Tempo. Reynolds, der noch bis vor kurzem als Physiker für die European Space Agency gearbeitet hat, schafft es immer wieder Teile aus der übergeordneten Handlung herauszulösen und so den Leser nach mehr sabbern zu lassen. Etwa das Ultra-Raumschiff, das monströs-dunkel und so "gothic" erscheint wie eine kosmische Version von Schloss Gormenghast. Oder die einprägsamen Beschreibungen der "Schleierweber" und "Musterschieber", zwei der wenigen Alien-Rassen, der die Menscheit in seinem Buch begegnet ist. Als Wissenschaftler behält Reynolds stets im Auge, dass es Im All gewisse physikalische Regeln gibt, an die sich alle halten müssen. Dies verleiht den technisch-physikalischen Beschreibungen eine gewisse Authentizität. Die menschliche Komponente dominieren zwei dunkle weibliche Charaktere, Khouri und Volyova. Sie sind komplex angelegt, ihre Motive werden klar erläutert und sind im Sinne der Handlung gerechtfertigt. Auch zeigen beide geistige Flexibilität, in dem sie ihre Ziele geänderten Umständen anpassen können.
Reynolds schreibt dunkel, detailliert, dicht und organisch, so dass "Unendlichkeit" auf seinen rund 800 Seiten eine fesselnde und ausgesprochen unterhaltsame Vision der Menschheit im All liefert. Die glaubwürdigen Protagonisten bewegen sich in plastisch beschriebenen Welten, die mit den Techno-Gimmicks, Aliens und Raumschiffen einen wunderbaren Hard SF-Hintergrund bilden für die nächsten zwei Gänge des "Revelation Space"-Menüs.
Alastair Reynolds, Heyne
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