Der Kinderdieb
- Droemer-Knaur
- Erschienen: Januar 2010
- 9
Peter Pan in Brooklyn
Wer kennt ihn nicht, den Jungen, gekleidet in ein grünes Gewand, der zusammen mit Tinkerbell und seinen Gefährten im Kampf gegen Kapitän Hook ein ums andere Mal um die Zukunft von Nimmerland antritt. Spätestens, seitdem Walt Disney die literarische Vorlage cineastisch umgesetzt hat, haben Millionen von Kindern davon geträumt, auch fliegen zu können und auf den Schwingen der Morgenröte ins Reich der Phantasie zu fliegen. Brom nimmt sich der Vorlage J. M. Barries an und macht daraus etwas ganz Eigenes. Das Ergebnis ist weit von der disneyhaften Friede-Freude-Welt entfernt, fesselt ebenso wie es verstört, beunruhigt und fasziniert gleichermaßen.
Schon der Prolog zeigt auf, wohin es geht. Wir begegnen einem kleinen Mädchen. Seit ihre Mutter sich umgebracht hat, leidet sie unter Ausgrenzung, geht kaum mehr in die Schule. Sie hat Angst - Angst davor, dass ihre Mitschüler sie auslachen, Angst vor allzu mitfühlenden Lehrern und Angst vor der Nacht. Denn nachts kommt ihr Stiefvater sie manchmal besuchen. Dieses Mal aber muss sie den Schmerz, das Gefühl, dass etwas falsch ist, nicht ganz tief in sich vergraben, dieses Mal sieht sie statt des Sternenhimmels über ihrem Bett einen Jungen mit spitzen Ohren und goldenen Augen. Und Peter hat ein Messer. Auch wenn sie weiß, dass man nicht mit Fremden, schon gar nicht dünnen Dieben mit goldenen Augen mitgehen soll, kann es wirklich schlimmer kommen? Es kann ...
Kurz darauf lernen wir Nick kennen. Auf der Flucht vor einem Drogendealer, dem er aus Rache dafür, dass er und seine Bande sich in seinem Heim eingenistet haben, eine ganze Lieferung abgenommen hat, holen ihn dessen Helfershelfer ein. Er weiß, dass er nur noch kurz zu leben hat und dass sein Tod lang und schmerzhaft sein wird. Als ihn die Schläger einkreisen, mischt sich ein dünner Junge mit merkwürdig spitzen Ohren ein. Nicht nur, dass er den Schlägern zeigt, was eine Harke ist, er bietet Nick an ihn in Sicherheit zu bringen.
Durch das Reich des Nebels, vorbei an Ungeheuern, Menschenfressern und Trollen geht es auf nach Avalon, der Insel der Magie. Hier, bei den Teufeln, muss jeder, den Peter rettet, eine harte Lehrzeit durchlaufen. Nur die Stärksten überleben, wer bisher dachte, sein soziales Umfeld meine es nicht gut mit ihm, der wird eines Schlechteren belehrt. Gnadenlos werden die, denen das Schicksal so schon übel mitspielte, geknechtet, geschunden und gedemütigt, bis sie sich in die Gemeinschaft eingefügt haben. Währenddessen sucht Peter in der Welt des Sternenhimmels weiterhin nach neuen Rekruten für den Jahrtausende währenden Kampf gegen die Menschenfresser des Kapitäns ...
Brom, Autor und Illustrator vorliegenden Romans, ist ein überaus produktiver, talentierter Mensch. Die lapidare Bemerkung Barries, dass Peter Pan seine verlorenen Jungs immer wieder ausdünnen würde, wenn die Gefahr einer Überbevölkerung drohen würde, inspirierte ihn zu vorliegendem Werk.
Das Buch lebt vom Gegensatz, aber auch den Gemeinsamkeiten der beiden Handlungsebenen. Avalon, das letzte Refugium der Magie, der ewigen Jugend und der Freiheit auf der einen Seite, als Widerpart Brooklyn, New York, der Schmelztiegel der Rassen und Völker, der Hort von Kriminalität, Gewalt und Depression auf der anderen. So unterschiedlich diese beiden Handlungsorte auch sind, im Grundsatz reduziert auf das Wesentliche heißt es in beiden Welten, der Stärkere - und das ist der Brutalere - regiert und bestimmt wo es langgeht, der Schwächere geht unter. Abhängigkeiten wechseln, der äußere Anschein trügt, hier wie dort geht es nur um eines - Macht.
Sind auf der Insel, die aus der irisch-keltischen und nordischen Mythologie entlehnten Monster noch klar erkennbar, so finden sich auch unter den Teufeln, den eigentlich Guten der Handlung, Widerlinge zuhauf. Bleibt der Leser angesichts bekannter Monster innerlich noch zumindest ein wenig auf Distanz, so ist dies in dem anderen Handlungsstrang, der in New York spielt, nicht mehr möglich. Mit scharfem Auge porträtiert der Autor hier alles an menschlichen Widerlichkeiten, Abnormitäten und Perversitäten, was unsere moderne Gesellschaft auszeichnet. Verrohung, Verelendung, Drogenmissbrauch, Pädophilie - die urbanen Monster sind erschreckend real.
So birgt das Buch eine erschreckend realistische Beschreibung alltäglicher Gewalt sowohl physischer wie psychischer Art zwischen seinen Deckeln und verpackt eine erschreckend umfassende Bestandsaufnahme unserer Werte- und Wohlstandsgesellschaft in einer phantastische Handlung, die den Leser kaum aus ihren Griff lässt.
Die kongenialen Illustrationen des Autors, der bereits als Zeichner (Doom 2, World of Warcraft), beim Film (Van Helsing, Sleeping Hollow) und als Autor (The Plucker) auf sich Aufmerksam machte, runden das Bild ab. Leider hat Pan die dem amerikanischen Original beigefügten Farbillustrationen nicht beigebunden. Diese kann der Interessierte auf der Internetseite www.bromart.com genießen.
Das Gebotene ist weit davon entfernt, nur Unterhaltungsliteratur zu sein. Nichts mit Flucht in die heile Welt der Fantasy, hier geht es um Menschen, die leiden, die töten, und zwar oftmals gerade die, die auf ihre Hilfe angewiesen sind. Kein Kinderbuch, sondern eine moderne Fabel, die unserer Kultur einen Spiegel vorhält.
Brom, Droemer-Knaur
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