Tanglewreck. Das Haus am Ende der Zeit
- Bloomsbury
- Erschienen: Januar 2006
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Ein Mädchen im Quantensumpf
Die elf Jahre alte Silver Rivers lebt ein altmodisches Leben in einem großen alten Haus namens Tanglewreck. Ihre Eltern und ihre Schwester Buddleia sind spurlos bei einem Zugunglück auf dem Weg nach London verschwunden, als Silver sieben war. Seitdem ist Mrs. Rokabye ihr gesetzlicher Vormund, die böse Schwester ihres Vaters, die das Kind wie eine Hausbedienstete behandelt. Außerhalb von Tanglewreck spielt die Zeit verrückt. Zeittornados fegen einen Schulbus durch die Luft, Zeitfallen stoppen Züge erst und bringen sie dann mit ungeheurer Geschwindigkeit an ihr Ziel.
Als der undurchsichtige und finstere Abel Darkwater auf der Suche nach einer alten Uhr, dem Zeitwärter, nach Tanglewreck kommt, beginnt für Silver das Abenteuer ihres Lebens.
Seltsame Begegnungen der vierten Art
Auf ihrer Suche nach dem Zeitwärter begegnet Silver allerlei Gestalten, darunter befinden sich ein Pirat aus ihrer Ahnenreihe und eine Gruppe kleiner Leute, die sich Unterwürfler nennen und im Untergrund Londons wohnen. Sie lernt das Hospital von Bedlam kennen, das kein Krankenhaus ist, sondern ein Ort des Grauens und der Folter. An der Themse taucht ein Mammut auf. Silver erfährt, was es mit den Dünen der Zeit, dem Tempel von Ra und der Einstein-Linie, auf der es nur die Gegenwart gibt, auf sich hat. Sie wird in einem Zeittornado gefangen und in eine alternative Zukunft geschickt. Sie befreit den Unterwurf Gabriel aus einem schwarzen Loch, erlebt eine Zeittransfusion mit, erfährt eine Kurzausbildung in Telepathie und Quantenmechanik.
Winterson bringt sehr viele Einfälle in ihrer Geschichte unter, die ihren Ursprung im Märchen, in der Magie und in der Wissenschaft - genannt seien hier Schrödingers Katze, Wurmlöcher, schwarze Löcher, ein Multiversum von hoher Durchlässigkeit - haben. Das verleiht der Geschichte eine hohe Dichte, ohne dass sie überfordern würde. Dazu wird vieles zu sehr im Anriss präsentiert, was der Erzählung nicht abträglich ist, gleichwohl Anreize für eine weitere Beschäftigung liefern kann.
Primat der Ökonomie
In der Welt von "Tanglewreck" ordnet sich alles dem Profitstreben unter. Die Herrschaft haben undurchsichtige multinationale Konzerne inne, namentlich Quanta. Existenzielle Güter sind handelbar, aktuell steht die Zeit auf der Agenda. Die Probleme mit der Zeit (Tornados, Fallen) veranlassen den Premierminister, Quanta "die Kontrolle über sämtliche kommerzielle Interessen an der Zeit" zuzusichern. Der US-Konzern steht unter Führung der mit einem Geheimnis ausgestatteten Regalia Mason, die Zeittransfusionen erfunden hat, eine Möglichkeit, für nutzlos gehaltenen Menschen Zeit zu entnehmen und diese an zahlungswillige Menschen zu verkaufen. Wichtigste Rohstoffträger sind in diesem Geschäftsfeld Waisenkinder und Kinder, die von ihren Müttern verkauft werden. Ihnen wird Zeit entnommen, mitunter so viel, dass sie mit dreizehn Jahren schon wie sechzig aussehen. Die Welt äußert sich hier in einer dramatischen Menschenverachtung. Es werden Untermenschen bestimmt, deren Lebenssinn allein darin besteht, die Lebensqualität von Menschen zu verbessern, die sich dieses materiell leisten können. Ein multinational tätiger Konzern verdient daran, die Politik ist für die Rahmenbedingungen zuständig. Quanta gibt zu, dass dieses Geschäftsmodell mit Nebenwirkungen verbunden ist: es leistet einen Beitrag zum Abbau der Überbevölkerung. Ach ja, auch von der Kirche ist keine Hilfe zu erwarten. Der Papst ist Anhänger der Folter, jedoch in Maßen: "Eine Stunde gleich welcher Folter ist das Äußerste", sagte der Papst. "Wir müssen Gnade walten lassen."
"Tanglewreck" ist ein Jugendbuch.
Ein wenig Kritik
Manch seltsame Dinge geschehen in dem Roman. So erfahren wir vom Unterwurf Gabriel, dass seine Art nicht an der Erdoberfläche leben kann. Aber zum Ende hin eröffnet Gabriel Silver ohne Erklärung, dass sie es jetzt können. Die Struktur der Phantasiewelt wird nicht beschrieben, die Regeln, nach denen sie funktioniert, bleiben weitgehend unklar.
Winterson nutzt viele Gelegenheiten, auf den Unterschied von Magie und Wissenschaft hinzuweisen. Entscheidende Dinge geschehen jedoch jenseits beider. So wird Gabriel allein durch die Kraft der Liebe aus dem schwarzen Loch gezogen:
"Und doch entkam er. Er reiste schneller als ein Lichstrahl, denn er reiste mit der Geschwindigkeit der Liebe."
Was bedeutet, wie wir an anderer Stelle erfahren: schneller als Lichtgeschwindigkeit. Vielleicht handelt es sich um eine Synthese aus Romantik und Quantenphysik.
"Tanglewreck" folgt der Logik von Märchen. Die Heldin Silver lebt in einem sehr alten Gemäuer, das Böse lebt in Gestalt nicht der Stiefmutter, sondern der Tante mit der Heldin zusammen. Dieses Böse erfährt eine starke Relativierung durch dasjenige, welches (von) Außen wirkt. Die Heldin begibt sich auf eine Initiationsreise und rettet so sich und die Welt. Das Buch ist nicht nur für Jugendliche eine interessante Lektüre.
Jeanette Winterson, Bloomsbury
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