Das Gewicht der Seele

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  • Erschienen: Januar 2009
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Das Gewicht der Seele
Das Gewicht der Seele
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Elmar Huber
95°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJan 2010

Bestimmen Sie das Gewicht der Seele!

"Die Seele ist Energie, Tucholsky, reine Energie, die in unserem Körper gespeichert ist. Und genau hier lag der Ansatz von Johannes' Überlegung: die Akkus zu finden, in denen sich die Seele einlagert. Aber bis zu deren Entdeckung waren zahlreiche Versuche nötig."

Eine unscheinbare Stellenanzeige scheint der Ausweg zu sein, den der Kleinkriminelle Paul Tucholsky gerade braucht, um zumindest kurzzeitig seine Brücken abzubrechen. Vier ältliche Damen suchen für eine Tour durch Europa einen Chauffeur. Paul hat keine Verpflichtungen und kann das Geld gut gebrauchen. Was allerdings wie ein skurriles mobiles Kaffeekränzchen beginnt, entwickelt sich nach und nach zu einem blutigen Albtraum, der seine Wurzeln in der Nazi-Vergangenheit der Familien von Pauls Passagieren hat. Bizarre Morde zeichnen den Weg der seltsamen Reisegesellschaft nach. Doch das Wirken der alten Damen bleibt nicht lange unentdeckt. Auch deren Gegner sind keineswegs wehrlos. Immer weiter wird der Vergangenheit der Schleier des Schweigens entrissen.

"...dementsprechend unwohl fühle ich mich in der illustren Runde."

Schon bald ist klar, dass Paul keine harmlosen Rentnerinnen an Bord hat. Schon bei seinem Vorstellungsgespräch sieht sich Paul ungewollt in die Rolle einer Maus gedrängt, die sich vier lächelnden Katzen präsentiert. Doch seltsame Zwischenfälle auf der Reise lassen Paul nicht ruhen. Mit detektivischem Spürsinn versucht er herauszufinden, ob seine Reisegruppe tatsächlich hinter den eigenartigen Vorkommnissen steckt, die ihren Weg säumen. Schrittweise steigert Oliver Kern dabei sowohl die Bedrohlichkeit, wie auch die Gewissheit, dass die vier alten Damen damit in Verbindung stehen. Sobald dieser Status quo erreicht ist, bezieht "Das Gewicht der Seele" seine beträchtliche Spannung daraus, dass Pauls Ermittlungen unbemerkt von seinen Passagieren stattfinden müssen. Denn längst ist klar, dass die vier Alten eisern ihr unbekanntes Ziel verfolgen und Paul ersetzbar ist. Dabei rutscht der Autor keinen Moment in Skurrilität ab, die sich hier zweifellos angeboten hätte. Unbeirrt und schnörkellos verfolgt er den geradlinigen Weg eines wirkungsvollen Thrillers, der gegen Ende ins Phantastische weiterführt.

Auch die Personenzeichnung ist außerordentlich konsequent und gelungen. Paul selbst wird vage als charakterlich fragwürdig und leicht abgerissen beschrieben, doch nie tatsächlich konkret oder gar abstoßend. Schließlich dient er als Identifikationsfigur. Jede der vier Damen gewinnt schon bald Kontur. Dabei sticht Gertrude von Ahrens und Drewsky aus dem Quartett heraus. Sie trifft letztendlich die Entscheidungen der Gruppe und hält ihre schützende, aber auch bestrafende Hand über Paul. Sogar ein unterschwelliges sexuelles Interesse von Pauls Seite her wird angedeutet. Doch weiter geht Oliver Kern nicht. Der Autor weiß genau, wo er subtil bleiben muss und wo er deutlich werden kann.

"... mit seinen Gedanken ist er in das Jahr 1940 zurückgekehrt."

"Das Gewicht der Seele" erinnert in seinem Aufbau stark an Jean-Christoph Grangés "Der Flug der Störche". Hier wie da verfolgen wir einen zumindest moralisch fragwürdigen, selbstbezogenen Charakter auf einem Weg, der - zuerst noch undeutlich, doch immer unaufhaltsamer - in eine unvorstellbare Hölle führt. Erst einmal beschritten, lässt sich dieser Weg nur schwer wieder verlassen. Getrieben von Neugier und Stolz und geblendet von der Unvorstellbarkeit des Geschehens muss sich Paul selbst beweisen, dass er nicht kneift. Dabei gelingt es Oliver Kern mit Bravour, Paul unaufdringlich "auf Kurs" zu halten.

Doch wo sein französischer Kollege immer gründlicher die bodenlosen Tiefen eines kranken und verzweifelten menschlichen Geistes auslotet, macht Oliver Kern eine Grätsche ins Phantastische. Er ersinnt einen menschlichen Dämon, geboren im blutbesudelten, von Tod und Schmerzen gezeichneten, medizinischen Trakt eines Konzentrationslagers. Von höchster Stelle wurde unmissverständlich ein außerordentlicher Auftrag an die Ärzte erteilt. "Bestimmen Sie das Gewicht der Seele!". Doch die notwendigen Tests zur Erfüllung des Auftrags gingen nicht spurlos an dem ausführenden Arzt vorbei. Es scheint, als hätten erst die unzähligen begangenen Gräuel förmlich eine physische Barriere brechen lassen und übermenschliche Fähigkeiten freigesetzt. Eine kleine Gruppe Eingeweihter - die Familien unserer vier Damen - machten sich diese Fähigkeiten zunutze, um ihr Leben zu verlängern.

"Kein Fehler, kein Patzer, nichts durchgestrichen oder verwischt, kein Haken zuviel."

Angesichts der formalen Stärke überrascht es, dass "Das Gewicht der Seele" erst Oliver Kerns zweiter Roman ist ("Die steinernen Drachen" sind nicht mehr erhältlich). Der Autor hat seine Geschichte zu jeder Zeit voll im Griff. Mit gezielten Enthüllungen und handwerklichen Kniffen treibt er die ohnehin dichte Handlung stetig voran. Kerns Handwerkskunst kann durchaus Vergleichen mit Andreas Gruber standhalten. Dazu gesellt sich das absolut originelle Thema. Oliver Kern schreibt nicht ab, bedient sich keiner bekannten Figuren, gewinnt keinem x-mal gelesenen Thema angeblich neue Facetten ab, schaut nicht aus einer neuen Perspektive auf etwas Bekanntes. Er erschafft kurzerhand etwas gänzlich Neues. Zugegeben, die angeblichen mythologischen Interessen der Nazis wurden schon öfter thematisiert, doch das Motiv der Seelenextraktion ist sicherlich neu.

Das Äußere und Innere des Buches lassen nichts zu wünschen übrig. Generell lässt der Sieben-Verlag hier sehr hochwertig arbeiten. "Das Gewicht der Seele" ist in der allgemeinen Phantastik-Reihe des Sieben-Verlags erschienen, die seit neuestem mit einem eigenen, kleinen "Phantastik"-Logo (könnte ein Bullauge darstellen) auf dem Cover gekennzeichnet ist.

Das Gewicht der Seele

Oliver Kern, -

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