Apokalypse im menschlichen Ameisenhaufen
Chester's Mill im US-Staat Maine ist ein 2000-Einwohner-Städtchen, das es bisher nie in die überörtlichen Nachrichten schaffte. Die meisten Bürger kennen einander, man weiß, was man von seinem Nachbarn zu halten hat. Für die größten Probleme sorgen "Big Jim" Rennie, der Zweite Stadtverordnete, ein bigotter, verlogener, aalglatter Gebrauchtwarenhändler, der sein Amt weidlich ausnutzt, um in Chester's Mill das Sagen zu haben, und "Junior" Rennie, sein nichtsnutziger, psychopathischer Sohn.
An einem schönen Herbsttag geht unvermittelt der "Dome" über Chester's Mill nieder: eine unsichtbare, nur für Schall und etwas Luft durchlässige, ansonsten undurchdringliche Kuppel, deren Gestalt sich sehr genau an der Ortsgrenze orientiert. Niemand kann Chester's Mill verlassen, niemand kann hinein. Ratlos riegelt das Militär die Region ab, während sich der "Dome" rasch in einen Kessel verwandelt, dessen Innendruck stetig steigt. Die Verteilung von Nahrung, Wasser, Heizöl und Treibstoff ist schlecht organisiert. Statt sich darum zu kümmern, schwingt sich "Big Jim" mit Hilfe des ihm hörigen stellvertretenden Polizeichefs Randolph zum Diktator auf. Endlich kann er seine Träume von einem Gottesstaat der Tüchtigen verwirklichen! Vor Gewalt und Mord schrecken seine Schergen, die Rennie mit Privilegien und Sonderzuteilungen an sich zu binden weiß, nicht zurück.
Nur eine kleine Schar unter Leitung des ehemaligen Elite-Soldaten und heutigen Aushilfskochs Dale Barbara stemmt sich dem ausbrechenden Irrsinn entgegen. Irgendwo in Chester's Mill muss die Maschine stehen, die der Kuppel ihre Energie zuführt. Während wenige suchen, unterwerfen sich viele dem Willen des zunehmend dem Cäsarenwahn verfallenden Rennies, was dafür sorgt, dass die Stadt sich in eine Arena verwandelt, in der Feinde wie Freunde auf Leben und Tod kämpfen ...
Dick aber nicht behäbig, schwer aber leicht lesbar
Man hatte Stephen King bereits ein wenig abgeschrieben. Obwohl er seine Alkohol- und Drogensucht überwinden konnte und endlich die in die Breite getretene Saga vom "Dunklen Turm" abschloss, schien Sohn Joe Hill mit eigenen, frischeren Werken dem Vater den Rang abzulaufen. "Cell" (dt. "Puls") und "Lisey's Story" (dt. "Love") waren eher zähe Werke. 2008 zeigte King mit "Duma Key" (dt. "Wahn"), dass mit ihm noch zu rechnen war. Damals arbeitete er bereits an seinem aktuellen (erstmals 1976 begonnenen und damals abgebrochenen) Opus, das mit knapp 1300 Seiten Großwerken wie "The Stand" (dt. "Das letzte Gefecht") und "It" (dt. "Es") an die Seite zu stellen ist.
Das gilt nicht nur für den Umfang, sondern erfreulicherweise auch für die Qualität. Mit "Die Arena" blieb der Verfasser nach eigener Auskunft als Erzähler ständig auf dem Gaspedal. Dass ihm in der Tat eine rasante und trotz gewisser, wohl unvermeidbarer Längen im Mittelteil fesselnde Geschichte gelang, sorgt für eine Lektüre, die den Leser nicht irgendwo im Mittelteil seufzen und die Zahl der noch zu bewältigenden Seiten prüfen lässt.
King füttert sein handlungshungriges Buch-Monstrum mit allem, das er im Verlauf seiner langen Karriere in Sachen Spannung und Dramatik als funktionstüchtig kennengelernt hat. Das gelingt ihm mit erstaunlicher Virtuosität, und darüber hinaus prunkt "Die Arena" mit einem Figurenpersonal, das nach Dutzenden zählt, ohne dass Autor und Leser deshalb den Überblick verlieren. Diese Geschichte ist sicher länger, als sie sein müsste, doch sie bleibt auf Kurs bis zum kuriosen Finale, das so wohl nur King umsetzen kann, ohne vom Absurden ins Gefühlsduselige abzudriften.
Chester's Mill als Spiegelbild
Während der ´normale´ Leser sich der rasanten Handlung erfreut, stürzt sich der eher dem Kopf als dem Bauch verpflichtete Literaturkritiker auf die allegorische Seiten des monumentalen Buches, denn auch der kluge Mensch, der Weltflucht-Lektüre politisch korrekt zu verabscheuen hat, darf sich dieses Mal ohne schlechtes Gewissen in die Lese-Schlacht stürzen.
King hat eine Rechnung offen. Glücklicherweise begleicht er sie zwar auf Dollar und Cent, ohne darüber ins Dozieren oder Predigen zu verfallen, sondern bleibt unterhaltsam, wenn er seinem Land einen Spiegel vorhält. King gefällt nicht, was spätestens seit dem 11. September 2001 aus den USA geworden ist: ein von hohlem Patriotismus, bigotter Gottesfurcht, nackter Gier und Rücksichtslosigkeit geschüttelter Staat, dessen hehre Ansprüche als moralisches Gewissen und selbst ernannter Ordnungshüter der Welt sich realiter längst in heiße Luft aufgelöst haben.
Mill's Creek wird zum Mikrokosmos: vordergründig zum Spielfeld für Außerirdische, aber auch zur experimentellen Bühne für King, der ausführlich durchspielt, was geschehen kann, wenn sich die USA weiter selbst ins globale Aus drängen. Die Kuppel sorgt dafür, dass eine Flucht und damit die übliche Verlagerung interner Probleme ins Ausland unmöglich werden. Dieses Mal schmoren die Führer und Seelenretter mit denen, die sie machen und sich dabei für dumm verkaufen lassen, buchstäblich im eigenen Saft. Die Rettung erfolgt in letzter Sekunde, aber ein Happy-End ist das nicht: Chester's Mill hat sich längst selbst zerrieben.
Abrechnung mit selbst ernannten Führern
Die Parallelen zwischen der Stadtverwaltung von Chester's Mill und der US-Regierung Bush sind unübersehbar. King vermeidet direkte und plumpe Schuldzuweisungen, sondern bricht sie allgemeinverständlich so weit hinab, bis sie Volkes Stimme entspricht, die King so unnachahmlich zu imitieren weiß. Wie üblich ist Zurückhaltung nicht seine Sache. Dabei bringt King es immer wieder mit plakativen und zielsicheren Formulierungen wie dieser auf den Punkt: "Amerikas große Spezialitäten sind Demagogen und Rock'n'Roll, und wir haben zu unserer Zeit reichlich genug von beidem gehört." (S. 960)
"Big Jim" Rennie ist nicht George W. Bush. Diese Figur vereint mehrere politische, wirtschaftliche und religiöse Führergestalten der Gegenwart und verschmilzt sie - gleichzeitig scharf umrissen und um der Verdeutlichung willen überspitzt - zu einem kleingeistigen aber cleveren Mann, der die Krise als Chance sieht, ganz nach oben zu kommen, und alles tun wird, um sich dort zu halten. Rennie geht es nicht um Geld, das er zwar in Millionenbeträgen ergaunert, ohne sich selbst damit zu bereichern. Die Macht ist das Rauschmittel, nach dem er giert.
Allzu problemlos kann er sie an sich reißen. In "Die Arena" präsentiert King die breite Palette menschlichen Versagens. Dazu gehört für ihn das Mitläufertum. Wer laut genug schreit, dem folgen jene, die sich vor Widerstand und den daraus resultierenden Folgen fürchten. Zu ihnen gesellen sich Dummen und von der Situation Überforderten, die sich nach einem ´starken Mann´ sehnen, der für sie in Ordnung bringt, was sie in Angst versetzt, ohne selbst aktiv werden zu müssen - Verhaltensmuster, in denen King nicht grundlos deutliche Parallelen zum deutschen Nationalsozialismus sieht. Freilich vereinfacht er die Mechanismen der Volksverführung und stark. Natürlich ist "Die Arena" ein Unterhaltungsroman. King vergröbert, um für Deutlichkeit zu sorgen.
Kleine Lichter in einem düsteren Tunnel
Helden sind rar unter der Kuppel. Selbst der beinahe übertrieben gewaltlos agierende Dale Barbara hütet ein dunkles Geheimnis: Als ´Verhörspezialist´ des US-Militärs hat er im Irak die Demütigung und Folter von Gefangenen geduldet. Er bereut und hat aus seinen Fehlern gelernt. Wie so oft bei King gesellen sich Kinder, Hausfrauen und Senioren an seine Seite, denn nur sie haben sich eine Offenheit bewahrt bzw. im Alter wiedergefunden, die sie über sich selbst hinauswachsen lässt und ihnen Zugang zu unkonventionellen Lösungswegen ermöglicht. Realistisch ist das ganz sicher nicht, doch King lässt man das durchgehen, weil er über die Fähigkeit verfügt, solche Figuren ohne schlammige Gefühlsduseligkeit zu gestalten.
Vermutlich gäbe es ohne Computerkids, abgeklärte Greise und kluge Hunde keine logische oder wenigstens logisch wirkende Auflösung des Kuppel-Spektakels. Lange sieht es so aus, als würden sämtliche Protagonisten einen elenden Tod erleiden. Von 2000 Bürgern überlebt in der Tat nur eine Handvoll. Völlig wollte King nicht auf ein versöhnliches Ende verzichten. Wer sich durch 1300 Buchseiten gekämpft hat, würde das absolute Desaster vermutlich ungnädig aufnehmen; in diesem Punkt sollte man dem Profi King vertrauen. Faktisch wirkt sein Finale dennoch naiv bzw. der wuchtigen Vorgeschichte nicht gewachsen. Die Demokratie unter Druck beschäftigte den Verfasser offensichtlich stärker als die Klärung des Kuppel-Mysteriums. Dass der Berg kreist und doch nur ein Mäuslein gebiert, ist der King-Leser allerdings gewohnt.
Es hätte schlimmer kommen können: So unterbleiben schwurbelige Mystizismen à la "Das letzte Gefecht" dieses Mal vollständig. Wir vermissen sie nicht und sind froh über eine zwar überdimensionierte aber unterhaltsame Gruselmär über die Abgründe in der Seele des (US-amerikanischen) Durchschnittsmenschen, in denen sich Stephen King immer noch bestens auskennt.
Stephen King, Heyne
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