Die verbogene Symmetrie
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- Erschienen: Januar 2009
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Die Schönheit der Häßlichkeit
Sie sind nicht nur die Ärmsten der Armen, sondern auch noch die Geächtetsten und Verabscheuungswürdigsten. Die Kanalratten, Kinder und Jugendliche, die sich am alten Kai in stinkenden vermoderten halb verfallenen Lagerhäusern ihre Machtkämpfe liefern, die vom Stehlen überleben. Sie fürchten nur die Jäger. Und die kommen zu einer Großrazzia. Anfangs scheint es, dass die elfjährige Chess und ihre 14-jährigen Brüder Box und Splinter den Häschern entwischen können. Doch die zerren sie in den Arrestblock. Ethel, eine Pennerin, sitzt in der Ecke und strickt. Fünf Minuten darf sie mit ihnen reden. Sie macht den Geschwistern einen Vorschlag, den sie gar nicht ablehnen können. Sie rettet sie, wenn sie ihr helfen, gegen die verbogene Symmetrie zu kämpfen und aus einem Computer in einer anderen Welt etwas zu stehlen.
Nein, dieses Buch zu lesen, ist kein Vergnügen: Es ist eklig, brutal, gruselig, ungerecht und gemein. Jede Mutter bekommt Albträume, wenn sie sich vorstellen müsste, dass ihren Kindern ähnliches geschehen könnte. Wir lesen ein Buch unserer tiefsten Ängste und Abgründe. Wie ist das mit der Menschlichkeit, wenn sich Menschen nur durch das dickste Grauen bewegen? Chess findet ihre einzige Freundin Gemma wieder, die den Jägern auch entkommen konnte, doch da sind sie schon wieder und heften sich an die Fersen der Kinder. Wird Chess Gemma auf Kosten ihrer eigenen Flucht retten?
Myers schickt uns auf eine Reise, die an grausamer Spannung kaum zu überbieten ist. Die Ereignisse überschlagen sich, gerade scheinen die Waisenkinder entkommen, folgen ihnen die schrecklichsten Monster. Myers beschreibt kurz und knapp die Handlungen und Gefühle der Geschwister. Durch die Prägnanz und Härte - sie müssen hart sein, sind die Kanalratten doch an irgendeinem Tuesday einfach vor einem Waisenhaus abgeladen worden und später gemeinsam in noch größeres Elend geflohen - geht die Story dem Leser unter die Haut.
Myers ist genial, für die schlimmsten Dinge findet er eine poetische Sprache, die den literarischen Wert seines Erstlingswerks ausmacht. Die anderen bedrohlichen Welten existieren an denselben Plätzen nur auf parallelen Ebenen. Myers geht damit ins Fantastische und zugleich in die Sci-Fi, indem er Figuren schafft, bei denen wir nicht wissen, sind sie Maschine, Mensch oder Tier. Der Hintergrund von "The Bad Tuesdays" ist noch abgefahrener als bei den Matrix-Storys. Wo er den Leser hinführt, bleibt zunächst noch das imaginäre Geheimnis, und die Logik des Ganzen wird wahrscheinlich erst in den nächsten fünf Bänden klarer.
Die richtige Seite
Ein Satz des Buches wird in der Werbung und von den Rezensenten hervorgehoben: "Hier geht es nicht darum, sich der stärksten Seite anzuschließen, sondern der richtigen." In einem Interview mit dem Verleger Jean-Claude Lin äußert Myers, dass die Welt voller Spannungen ist, echter Spannungen. "Selbst, wenn man sich für eine Seite entscheidet, verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, je näher man der anderen Seite kommt."
Der Verlag Freies Geistesleben, der mit diesem Werk verlegerisches Neuland betritt, klassifiziert es als Jugendbuch. Aber bitte nur für mindestens 13-jährige, die nichts so leicht schocken kann. Ich selbst erlebe es eher als Buch für Erwachsene. Myers, Vater dreier Töchter, studierte Philosophie und Psychologie, doch anstatt, wie geplant, Anwalt zu werden, trat er in die Britische Armee ein. Im ersten Golfkrieg stand er als Kommandant einer Schwadron in erster Reihe. Dann wurde er Anwalt für Strafrecht und hatte mit Mordfällen, Vergewaltigungen, bewaffnetem Raub, weitreichenden Verschwörungen, Waffen und solchen Dingen zu tun. Schreiben wollte er schon immer und hat sich für das Buch ein Jahr Freiraum genommen, während er parallel seinen Master in Internationalem und Europäischem Menschenrecht absolvierte. Da er auch noch schreiben kann, würde es mich nicht wundern, wenn er für "The Bad Tuesdays" für Auszeichnungen nominiert wird.
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