Arkadien erwacht

  • Drachenmond Verlag
  • Erschienen: Juli 2024
  • 6
Arkadien erwacht
Arkadien erwacht
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Carsten Kuhr
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2009

Eine Geschichte über die Suche nach dem Ich

"Hast Du Dich schon einmal gefragt, wer in den Löchern in der Menge geht" (S. 71)

Brooklyn, New York. Hier mitten im Big Apple wuchsen die Geschwister Zoe und Rosa zusammen mit ihrer Mutter auf. Während ihre Mutter von der Familie ihres Mannes nichts mehr wissen will, reiste die ältere der Schwestern schon vor zwei Jahren nach Italien, um von ihrer Tante in die Mysterien der Mafia-Clans eingeführt zu werden.

Als Rosa ein persönlicher Schicksalsschlag ereilt, sucht sie Trost und Unterstützung bei ihrer Schwester. Schon auf dem Flug lernt sie einen jungen Mann kennen, der wie sie aus den USA nach Hause reist. Dass es sich bei Alessandro um den Erben des kürzlich verstorbenen Capo einer verfeindeten Mafiosi-Familie handelt, vermehrt nur ihr Interesse an dem charismatisch-geheimnisvollen Jungen. Trotz des erbitterten Widerstandes beider Familien fühlen sich die beiden zueinander hingezogen. Gemeinsam kommen sie einem uralten Geheimnis auf die Spur, einem Geheimnis, das die Familien der Arkadier um jeden Preis zu hüten trachten. Dass sie zudem von Mafiajägern bedrängt, von skrupellosen Mafiosi bedroht und angegriffen werden, dass sie immer tiefer in die finsteren Geheimnisse der Cosa Nostra eindringen, ist beileibe noch nicht das Beängstigende - auch sie selbst beginnen sich zu ändern. Ihre Einstellung zu Gewalt und Familientradition beginnt sich ebenso zu wandeln wie ihre Körper. Während sich Alessandro bereits auf der Universität das erste Mal in einen schwarzen Panther wandelte, setzt bei Rosa erst nach und nach die Fähigkeit zur Morphose in eine Riesenschlange ein. Während rund um sie herum ein blutiger Mafiakrieg ausbricht, Verrat und Gewalt um sich greifen, müssen sie sich entscheiden, ob sie dem alten Weg aus falsch verstandener Ehre und Gewalt folgen oder die verstreut über das Mittelmeer angesiedelten Überlebenden der Gestaltwandler zu neuen Ufern führen.

Neue Handlungsorte und Zeiten

Der neue Kai Meyer ist da, so raunte es auch auf der kürzlich zu Ende gegangenen Buchmesse. Wie schon seit Jahren erscheinen die Bücher Meyers bei unterschiedlichen Verlagen. Im Erwachsenenbereich legte Lübbe zunächst phantastisch angehauchte historische Romane auf, bevor vor gut anderthalb Jahren seine Dschinn-Trilogie um die Sturmkönige auf die Büchertische gebracht wurde. Das ist beste Abenteuer-Fantasy auf Meyer'schen Wegen. Im Jugendbuchbereich blieb er lange Zeit dem Loewe Verlag verbunden. Hier erschienen seine preisgekrönte Merle-Trilogie, der er die Wellenläufer- und die Wolkenvolk-Trilogien folgen ließ.
Mit all diesen Werken erwies er sich nicht nur als bestechender Stilist, sondern auch als wortgewaltiger, immer auf eigenen Pfaden wandelnder Phantast. In seltenem Ideenreichtum unterhielt er seine Leser zumeist in einer realen oder fiktiven Vergangenheit, setzte für das Sub-Genre des phantastischen Abenteuerromans neue Maßstäbe.

Dieses Mal aber ließ er das erfolgsgewohnte Rezept hinter sich, suchte und fand neue Handlungsorte und Zeiten. Schon die bestechende äußere Gestaltung mit der kongenialen Titelbildgestaltung legt beredt Zeugnis davon ab, dass hier etwas Besonderes auf den Leser wartet. In einprägsamen Bildern entführt er uns ins Sizilien der Jetztzeit. Minutiös recherchiert - auf seiner Internetseite kann man Fotos von vielen der Handlungsorte des Romans betrachten - entwirft er ein sehr realistisch anmutendes Bild einer kargen Insel, die von Armut, Furcht und erpresstem Schweigen regiert wird.

Man mag dem Autor nun vorwerfen, dass das Grundgerüst seiner Geschichte, die verfeindeten Liebenden, die auf unterschiedlichen Seiten stehend nicht zueinander kommen dürfen, nicht eben neu ist. Die West-Side-Story oder Shakespeares Romeo und Julia kommen dem Leser hier unwillkürlich in den Kopf. Auch die Darstellung der Mafiastrukturen baut auf Bekanntem auf. Doch genau hier erweist sich, welch großer Erzähler Kai Meyer ist. Ausgehend von seinen beiden Hauptpersonen besticht der Autor mit einem Text, der den Leser förmlich an die Seiten zwingt. Die Beschreibung der innerlich verzweifelten Rosa, die aus ihrer Einsamkeit und ihrem Leid heraus impulsiv und aggressiv handelt, ist schlicht grandios. Mit jeder neuen Erkenntnis über ihr Leben und ihre Vergangenheit, die sich uns erschließt, wird ihr Verhalten erklärbarer, in sich logischer und damit auch überzeugender. Das ist ein zutiefst vereinsamtes Mädchen im Körper einer erwachsenen Frau, die sich nach Halt, Zuneigung und Liebe sehnt. Gleichzeitig ist sie misstrauisch gegenüber ihrer Umwelt, verschreckt und aufbrausend und rebelliert gegen jede Art von Bevormundung. Sie ist es gewohnt, Entscheidungen alleine zu treffen, und für Fehlentscheidungen einen oftmals teueren Preis zu bezahlen. Um so erstaunlicher, dass sie sich einem Unbekannten öffnet. Natürlich reizt sie das Neue, das Spiel mit der Gefahr und auch das Verruchte, das von dem designierten Capo eines der Mafia-Clans ausgeht. Dass die Ablehnung durch ihre Familie ihr Interesse nur verstärkt, dass sie gerade zum Trotz die Nähe Alessandros sucht ist verständlich und gut nachvollziehbar. Erschwerend kommt hinzu, dass sie die erhoffte und eigentlich dringend benötigte Hilfe und moralische Unterstützung nicht bekommt. Nicht nur, dass ihre eigene Mutter sie im Stich lässt, auch die Schwester, auf die sie große Hoffnungen setzte, enttäuscht, ja verrät sie. Dass sie hier panisch und impulsiv reagiert, ist nachvollziehbar, zumal sie bei Alessandro auf Verständnis und Mitgefühl trifft.

Und letztlich ist diese Reise auch eine Suche nach ihren Wurzeln. Wer waren ihre Vorfahren, wer war ihr Vater, wie ist dessen Verwicklung in die dunklen Geschäfte der Cosa Nostra zu erklären, und wie wird sie selbst durch ihre Abstammung genötigt, Position zu beziehen?

So ist dies in erster Linie eine Geschichte über die Suche nach dem Ich, nach den Wurzeln, aber auch - und das ist dem Autor sehr wichtig - nach der Selbstbestimmung des Lebens. Cora kann und wird in eigener Regie über ihre Zukunft entscheiden, stellt sich mutig ihren Herausforderungen, auch wenn die Enttäuschungen sie schwer treffen. Hier packt der Autor seinen Leser mit den ergreifenden Schicksalen, berührt sie mit seiner atmosphärisch dichten Erzählung und verzaubert sie mit seinen Anklängen an die griechische Mythologie.

(Anmerkung: Diese Rezension bezieht sich auf die CARLSEN-Ausgabe von 2009)

Arkadien erwacht

Kai Meyer, Drachenmond Verlag

Arkadien erwacht

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