Brillianter, schonungsloser Erstlingsroman
"Zurück ins Jahr 1984 - ein Nachmittag in den Sommerferien. Hitze dieser Art gab es lange nicht mehr. Geschlafen wird seit Tagen bei offenen Fenstern und in jeder Nacht ziehen Wärmegewitter auf."
Ein mysteriöser, tödlicher Autounfall alarmiert den Polizisten Roland Krafft. Das Opfer ist Sonja Valentin, ein Miglied der "Indianer", seiner Clique des Jahres 1984. Was wollte Sonja mit den Grabwerkzeugen und der Lampe, die sich im Kofferraum ihres Wagens finden, nachts alleine im Wald? Hat einer der Feuerwehrleute am Unfallort tatsächlich einen bleichen Jungen zwischen den Bäumen gesehen, der die Bergungsaktion beobachtet hat? Sonjas tragischer Tod löst eine Reihe von Handlungen bei den restlichen drei Mitgliedern der Indianer aus. Roland kontaktiert seine ehemaligen Freunde David und Thomas, die sich nach dem schicksalhaften Sommer 1984 bewusst aus dem Weg gegangen sind.
Den ganzen Weg
Während der Lektüre von Stefan Melneczuks Kurzgeschichtensammlung "Geisterstunden vor Halloween" kam ich bald zu der Überzeugung, dass der Mann es versteht, mit wenigen Sätzen überzeugende, plastische Situationen und interessante und fassbare Charaktere zu erzeugen. Nur verlies er diese Orte und Personen in seinen Shorties viel zu schnell wieder. Mein Gefühl war ständig, dass Stefan Melneczuk nur den halben Weg geht und bei nahezu jeder der Geschichten aus "Geisterstunden" mehr drin gewesen wäre. Wenn der Autor nur die Gelgenheit hätte, mehr Zeit mit seinen Figuren zu verbringen, diese dem Leser nahe zu bringen und deren Handlungen psychologisch zu unterbauen, dann müsste das Resultat tatsächlich außergewöhnlich sein. Was lag also näher, als sofort zu "Marterpfahl" zu greifen, dem Roman, mit dem Stefan Melneczuk im Winter 2007/2008 eine Menge Staub aufgewirbelt hatte?
Rolands Nachricht an seine beiden Freunde löst unterschiedliche Reaktionen aus. Gemeinsam ist jedoch allen, dass sie sich zurück erinnern an den Sommer 1984, an die hormonellen Veränderungen, die damals für unbekannte Gefühle sorgten. Und an den fremden, unbeholfenen Jungen, der im Freibad von den größeren Jungs gehänselt wurde und sich gerne den Indianern angeschlossen hätte.
So setzt sich - in einem Wechsel aus Gegenwart und Vergangenheit - langsam das Bild eines schrecklichen, aber unabwendbaren Schicksals zusammen. Einer nicht zu vergessenden Schuld, die die Indianer auf sich geladen haben. Immer weiter zieht Stefan Melneczuk die Schraube an, verdichtet schonungslos die Ahnungen des Lesers, bis das Grauen zur Gewissheit wird. Gegen Ende gelingt es ihm sogar, nochmals eine Schippe draufzulegen und dem Leser neuerlich kalte Schauer über den Rücken zu jagen.
Psychologisch ausgefeiltes Schuld-und-Sühne-Stück
Zur überzeugenden Wirkung von "Marterpfahl" tragen einige gute Kniffe bei, die der Autor anwendet. Die Rückblenden ins Jahr 1984 erzählt Melneczuk nicht direkt aus Sicht der Jugendlichen sondern eher als Erwachsener, der dieser Clique bei ihren Handlungen zusieht und dem Leser stets bewusst macht, dass die Aktionen der Jugendlichen geboren sind aus Unsicherheit, Geltungsbedürfnis und Feigheit, getrieben von hormonellen Veränderungen an der Grenze zum Erwachsenwerden. Ohne zu verurteilen, seziert er die Aktionen und die Motivationen jedes einzelnen. Einen großen und wichtigen Stellenwert nehmen dabei die Beziehungen der Personen untereinander und die Gruppendynamik der Clique ein. Ein bemerkenswerter Bestandteil von "Marterpfahl", der die Figuren erst vollständig zum Leben erweckt. Auch das Zeitkolorit trägt zur überzeugenden Wirkung von "Marterpfahl" bei. Stefan Melneczuk ist - wie ich selber - ein Kind der 1980er und streut immer wieder Referenzen an diese Zeit ein, die mich selbst in meine Jugendjahre zurückversetzt haben.
Souverän springt der Autor dann von einem Protagonisten zum nächsten, zurück in die Vergangenheit und wieder zur laufenden Handlung, ohne dass ihm die Geschichte dabei entgleitet. So wirkt das Ganze dynamisch und gleichzeitig straff. Auch die Entwicklung der Charaktere und vor allem die Gegenüberstellung der Charaktere des Jahres 1984 und der Gegenwart ist konsequent und ungewöhnlich gut gelungen. Für einen Erstlingsroman außergewöhnlich selbstsicher und formal absolut überzeugend.
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