Die Superhelden bekommen ein anderes Gesicht
Die fünfzehnjährige Nina Walters wird 1999 für drei Monate ins Sommerferiencamp abgeschoben, damit ihre Eltern sich in Ruhe ihren Eheproblemen widmen können. Das Gemeinschaftsleben, das nervige Betreuerteam, der streng geregelte Tagesablauf und die aufgezwungenen Workshops ohne jegliche eigene Wahlmöglichkeit sind alles andere als ein Ferienvergnügen für den zeichnerisch begabten Teenager. Unglücklich versucht die introvertierte Nina die Wochen zu überstehen, ohne echten Anschluss an die anderen Jugendlichen zu bekommen. Ihre einzige Freundin wird Jewel, die mit ihren Goth-Outfit und ihrem aufmüpfigen Benehmen schon auf der Hinreise im Bus aneckte. Als Nina sich in Pete verliebt, steht sie wie so viele schüchterne Teenager vor dem Problem: Wie nähert man sich dem Objekt seiner Sehnsüchte, ohne dumm dazustehen? So nimmt der Sommer in diesem Camp Wagosh, einem einzigartigen Programm zur Förderung von Schülern mit besonderen Fähigkeiten, seinen Lauf. Wie es scheint, völlig normal, wie in anderen Ferienlagern auch.
Neun Jahre später reist die Studentin Amy Marsden von Boston nach Portland, um dort bei Michael Beaumont jr., seines Zeichens Psychotherapeut, eine Stelle als Praktikantin zu bekommen. Schon das Vorstellungsgespräch verläuft unkonventionell. Eine völlig aufgelöste Mutter einer Patientin stürzt zur Tür herein und bittet Beaumont, sich um das Verschwinden ihrer Tochter Nina zu kümmern. Mitten in das Gespräch platzt ein Anruf von Detective Bearson, dem zuständigen Polizeichef von Portland. Daraufhin nimmt Beaumont seine neue Praktikantin zu einem Leichenfundplatz mit und Amy wird kopfüber in die Ermittlungen eines mysteriösen Mordfalles hineingestoßen. Die Leiche der jungen Frau weist auf einen Tod durch Erfrieren hin, im Juni auf natürlichem Weg ein Ding der Unmöglichkeit.
Subtile Fährten
Die uns Europäern ein wenig suspekte Sitte der Amerikaner, seine Kinder während der langen, schulfreien Sommermonate in Feriencamps zu schicken, nutzt Thomas Plischke als Aufhänger für seinen Roman "Kalte Krieger".
Abwechselnd auf zwei Zeitebenen - auf ein Kapitel in der Vergangenheit im Feriencamp folgt das nächste Kapitel in der Gegenwart in Portland - entführt der Autor in eine scheinbar gänzlich normale Welt. Lange liest sich das Buch wie ein Kriminalroman ohne fantastische oder paranormale Elemente. Die Hinweise auf übernatürliche und unerklärliche Dinge sind geschickt eingestreute Details, die manchmal erst im Nachhinein einen Aha-Effekt auslösen. Die ausgelegten Fährten lassen mehrere Deutungen zu. Mir kam sofort im ersten Kapitel die Assoziation zu den berüchtigten Bootcamps, als das Stahlstrebentor und der stacheldrahtbewehrte Zaun auftauchen.
Spannung wird aufgebaut durch den Wechsel zwischen den beiden Handlungssträngen - die jeweils aus der Sicht von Nina Walters und Amy Marsden geschildert werden - und der psychologisch ausgefeilten und ausführlichen Darstellung der Charaktere. Plischke hat ebenso ein sicheres Gespür für die Ängste und Nöte von pubertierenden Jugendlichen und den Gruppenzwängen, denen sie ausgesetzt sind, wie für die Probleme einer Studentin und für eine treffsichere Charakterisierung von Nebenfiguren. Erst nach gut der Hälfte legt der Roman an Tempo zu und die Ereignisse häufen sich, auch wenn es keine Mordserie in Portland gibt, wie der Klappentext suggerieren will. Die Verknüpfungen beider Geschehen werden immer deutlicher und gegen Ende erfolgt ein Showdown, bei dem auch die Fans von handfestem Krawumm auf ihre Kosten kommen.
Die Capes bleiben im Schrank
´Kalte Krieger' ist kein knalliger Actionthriller, sondern ein fesselndes Psychodrama, das sich damit auseinander setzt, was übernatürliche Fähigkeiten mit der Psyche eines normalen Menschen anrichten. Der Roman stellt sich den Fragen: Erliegt man der Versuchung, diese unheimliche Macht zu missbrauchen? Welche Umstände spielen die Umgebung, die Familie und äußeren Umstände? Nicht die Rettung der Welt ist das Thema oder die Bekämpfung des Bösen. Es gibt keine klare Grenze zwischen Schwarz und Weiß. Die Helden entsprechen nur wenig dem Klischeebild sonstiger Super-Heroes, auch wenn sie über Superkräfte verfügen. Dafür sind sie Sympathieträger mit Macken und Unzulänglichkeiten. Wie Amy, die so schlecht den Mund halten kann, ohne sich um Kopf und Kragen zu reden, oder der aufbrausende Beaumont mit seinem Übergewicht, oder Nina mit ihrer ständigen Angst, nicht den Erwartungen ihrer Mitmenschen zu entsprechen.
Spannend zu lesen, überzeugend aufgebaut und aufgrund der versierten Schreibweise von Thomas Plischke auch stilistisch ein Vergnügen. Moderne Sprache, aber keinesfalls simpel. Passender Jugendjargon, humorvoll eingeflochtene Begriffe der modernen Umgangssprache bringen zum Schmunzeln (den schönen Ausdruck "Maurerdekolleté" habe ich auch erst vor zwei Jahren kennengelernt), und originelle Vergleiche lassen Personen sowie Orte bildhaft vorm Auge des Lesers erstehen.
Das Ende klärt zwar die meisten aufgeworfenen Rätsel, bietet aber genügend Raum für eine Fortsetzung. Lassen wir uns überraschen.
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