Der grüne Neid nimmt tödliche Gestalt an
Im Sommer des Jahres 1865 überlebt Charles Dickens, der nicht nur in seiner englischen Heimat berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, ein schreckliches Eisenbahnunglück. Während er den zahlreichen Verletzten zu helfen versucht, entdeckt er eine bizarre Gestalt, die sich an den Opfern zu schaffen macht: Dies ist Dickens´ erste Begegnung mit dem mysteriösen Drood, der ihn in den nächsten fünf Jahren - den letzten seines Lebens - immer wieder peinigen wird.
Nur seinen engsten Vertrauten zieht Dickens ins Vertrauen. Der kränkliche und opiumsüchtige Wilkie Collins, ebenfalls ein erfolgreicher Autor, mag an die Existenz von Drood lange nicht glauben, bis ihn ein ehemaliger Polizist eines Besseren belehrt. Inspector Field ist in Ungnade gefallen, nachdem Drood praktisch unter seinen Augen einen Edelmann ermordete. Besessen verfolgt Field den Schurken seit Jahren, um sich zu rehabilitieren und Drood stoppen zu können, der unter dem Pflaster von London ein Reich des Schreckens etabliert hat: In ehemaligen Steinbrüchen und Grabgewölben hausen die Ausgestoßenen und Verdammten der großen Stadt, die zum Sklaven eines Mannes wurden, der als intimer Kenner altägyptischer Riten sogar den Toten befehlen kann.
Als Collins seinem Freund Dickens helfen will, gerät er ebenfalls in Droods Gewalt. Verzweifelt versucht Collins zu entkommen, doch Drood und seine Schergen lauern überall. Systematisch werden jene ermordet, die ihnen in die Quere kommen. Nur Dickens eilt von Erfolg zu Erfolg, was in Collins die Frage aufkommen lässt, ob ihn sein Freund womöglich verraten und an Drood verkauft hat. Als Dickens ahnt, dass Collins ihn verdächtigt, beginnen beide Männer ein heimliches Katz-und-Maus-Spiel, das nur einer überleben wird - oder keiner, falls Drood es so will ...
Ein Autor zwischen allen Stühlen?
Wie bespricht man einen so umfangreichen und mit Handlung nicht geizenden Roman? Schon die leserübliche Eingangsfrage lässt sich kaum beantworten: Welchem Genre lässt sich "Drood" zuordnen? Dan Simmons entzieht sich ihr mit bemerkenswerter Energie. Er will - immerhin das wird bald deutlich - primär eine unterhaltsame Geschichte erzählen. Die Kategorisierung überlässt er denen, die ohne Schubladen nicht leben (oder lesen) können. Der Versuch wird dennoch unternommen: "Drood" ist Historien-Roman, (doppelte) Autoren-Biografie, Liebesgeschichte, Horror, Krimi und Abenteuer, wobei die Grenzen verschwimmen und die Genre-Anteile sich in ständig wechselnder Intensität mischen. (Man könnte das alles auch unter dem hilfreichen Nonsense-Begriff "Belletristik" subsumieren ...)
Die Unberechenbarkeit der daraus resultierenden Geschichte irritiert. Einerseits ist das vom Verfasser, der sein Publikum in die Irre führen möchte, durchaus gewollt, andererseits ist es aber auch die unschöne Folge einer Story, die sich offensichtlich selbstständig gemacht hat. Deutlich wird jedenfalls, was Simmons nicht schreiben wollte: eine weitere Gruselgeschichte in viktorianischer Kulisse, in der Drood das geniale Scheusal gibt, das letztlich doch sein Schicksal ereilt. Folgerichtig bleibt die Identität von Drood ebenso unklar wie das Ende von Dickens´ letztem Roman, was in weiterer Konsequenz eine der zahlreichen literarischen Spielereien ist, die Simmons sich und seinen Lesern gönnt.
Eindeutig lässt "Drood" einen roten Faden vermissen. Knapp 1000 Seiten ist dieses Buch stark; die Geschichte benötigt so viel Papier objektiv nicht. Darin spiegelt Simmons freilich die zeitgenössische Literaturwelt wider: Dickens und Collins schrieben in einer Zeit ohne die Attraktionen und Ablenkungen des 21. Jahrhunderts. Jene Menschen, die sich Freizeit leisten konnten, lasen - konzentriert und ausgiebig. 1000 Seiten "Drood" hätten 1865 kein Aufsehen erregte; Romane waren oft zwei- oder dreibändig. Mäandrierende Handlungen waren kein Manko, sondern wurden in den Lektüre- und Verständnisprozess integriert.
Ein Drood als Schnittmenge zweier ´Freundschaften´
Das hat sich geändert. Auf den Punkt soll ein Autor heute kommen. In dieser Hinsicht wird "Drood" vielfach zur harten Geduldsprobe. Viel hat sich Simmons vorgenommen - zu viel womöglich, denn Vielschichtigkeit ist kein literarisches Qualitätsmerkmal, wenn nur der Verfasser weiß, worauf er eigentlich hinauswill. Falls "Drood" primär die Geschichte einer von Neid und Konkurrenzdenken überlagerten Freundschaft ist, deren Scheitern sich in der Manifestation eines Dämons namens Drood ausdrückt, geht dies in der Unzahl der Handlungsstränge unter.
Benötigt "Drood" überhaupt ein phantastisches Element? Diese Frage stellte sich schon, als Simmons sein monumentales Epos "Terror" (2007) mit einem Polar-Monster anreicherte, obwohl die Geschichte auch ohne den so erzeugten Horror glänzend funktionierte. Offenbar möchte sich Simmons ein Hintertürchen offenhalten und jene Leser nicht verlieren, die ihn als Verfasser ausgezeichneter Science und Weird Fiction kennen und schätzen. Unerquicklicherweise wirken die damit einhergehenden Effekte in "Drood" aufgesetzt.
Dabei ist die Geschichte der ´Freundschaft´ zwischen Charles Dickens und Wilkie Collins spannend wie ein Krimi. Simmons hat ausgiebig recherchiert und zwei Männer zu nicht nur literarischem Leben erweckt. Stimmen alle Details? Das ist nebensächlich, denn viel wichtiger ist die Geschichte, die Simmons daraus formt. Sowohl Dickens als auch Collins sind Getriebene und Besessene, die schon vor dem Erscheinen Droods einander belauern. Collins, der Jüngere, will den charismatischen Älteren aus dem Olymp vertreiben, um selbst seine Stelle einzunehmen. Er hungert nicht nur nach Ruhm, sondern ersehnt auch den gesellschaftlichen Aufstieg, wie er Dickens gelang.
Der ist sich seiner Gipfelstellung nicht nur bewusst, sondern auch keinesfalls bereit, sie zu räumen. Dickens durchschaut Collins, denn er ist nicht nur der bessere Autor, sondern durchaus durchtrieben. Wie man sich in der Öffentlichkeit ins rechte Licht setzt, versteht er besser als Collins. Dass er Dickens niemals das Wasser reichen konnte und was er als Freund ungeachtet dessen an ihm hatte, begreift Collins viel zu spät.
Wie Kater umkreisen der Alte und der Junge sich. Viktorianische Höflichkeit betont die Härte ihres Duells noch, das über unzählige Runden geht, unfaire Methoden wie den Einsatz von Hypnose einschließt und die Kontrahenten körperlich wie geistig zermürbt. Ganz selten fallen die Masken, und purer Hass bricht sich Bahn. Angesichts dieser realen Unbarmherzigkeit wirkt Drood wie ein Geisterbahn-Bösewicht.
Gleichzeitig spornen sich Dickens und Collins zu literarischen Höchstleistungen an. So erzählt "Drood" auch von der Geburt des modernen Kriminalromans, der beiden Autoren wichtige Entwicklungsimpulse verdankt. Wie die Psyche das menschliche Handeln bestimmt, spielte Collins noch vorsichtig aber schon überzeugend in "The Moonstone" (1868; dt. "Der Monddiamant") durch. Dickens griff dies 1870 in seinem letzten Roman (s. u.) auf. "Drood" wiederum macht (in Romanform) deutlich, wie sich die beiden Männer in die gefährlichen Untiefen der menschlichen Seele vortasten - und dort verlieren.
Die Vergangenheit nimmt Gestalt an
"Drood" ist ein Roman, dessen Verfasser sehr viele Seiten dem Versuch widmet, seinen Lesern die Welt des 19. Jahrhunderts näherzubringen. Das geschieht zwar auf Kosten einer stringenten Story, aber Simmons handelt generell richtig. Obwohl die viktorianische Ära von Dickens & Collins kaum 150 Jahre zurückliegt, käme sich ein Mensch der Gegenwart im London der Jahre 1865 bis 1870 wie ein Außerirdischer vor.
Die Erkenntnis dessen, was diese Fremdartigkeit ausmacht, ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Simmons´ nicht nur inhaltlich seltsamen Geschichte. Im 21. Jahrhundert ist die allgegenwärtige Präsenz mehr oder weniger prominenter Zeitgenossen alltäglich geworden. Deshalb ist es beispielsweise schwierig nachzuempfinden, wie berühmt Charles Dickens wirklich war - nicht nur ein genialer Erzähler, sondern auch begnadet im Vortrag seiner Werke; ein Superstar seiner Zeit, der sein Publikum ohne Verstärker oder digitale Effekte, sondern nur mit der Kraft seiner Stimme zu fesseln und hysterische Ausbrüche zu erzeugen vermochte.
Wie dies gelingen konnte, vermag Dan Simmons überzeugend deutlich zu machen. ´Sein´ Charles Dickens ist kein fehlerfreier aber ein faszinierender Mann und in seinem Metier der unnachahmliche Meister. Deshalb bedeutete sein Tod am 9. Juni 1870 einen doppelten Verlust: das Ende eines nicht von Verlagen und Medien gehypten, sondern von seinen Lesern gekürten Bestsellerautoren, der sein letztes Werk unvollendet lassen musste.
Ein Geheimnis fasziniert die lesende Welt
Am 1. April 1870 erschien die erste Lieferung des Romans "The Mystery of Edwin Drood", der wie seinerzeit üblich zunächst in Fortsetzungen erschien. Für den März 1871 war der zwölfte und letzte Teil angekündigt. Da "The Mystery ..." eine Kriminalgeschichte erzählte, würde dieses Finale gleichzeitig die Auflösung eines Mordfalles bieten, dessen Autor alle seine beträchtlichen Register zog, um die Spannung zu schüren. Doch Dickens, der noch schrieb, während "The Mystery ..." bereits erschien und den Lieferungen dabei nie weit voraus war, starb über den Fahnen des sechsten Teils, der im September 1870 postum erschien. Notizen bezüglich des Ausgangs der Geschichte hinterließ Dickens nicht.
Womöglich wurde "The Mystery ..." gerade auf diese tragische Weise unsterblich: Dickens musste nie unter Beweis stellen, ob die Auflösung seinem Rätsel genügte. Stattdessen hinterließ er ein an offenen Fragen und Rätseln reiches Fragment, an dessen Interpretation, Entschlüsselung oder Vollendung sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, aber auch und erst recht unzählige Hobby-Kriminologen versuchten.
Simmons verknüpft das Drood-Rätsel geschickt mit einem Unglück, dem Charles Dickens am 9. Juni 1865 nur knapp mit dem Leben entkam: Er saß in dem Zug, der nahe Staplehurst in der englischen Grafschaft Kent auf einem Eisenbahnviadukt entgleiste. Zehn Fahrgäste starben, vierzig wurden zum Teil schwer verletzt. Dickens wurde von den Bildern dieses Unglücks verfolgt. Für "Drood" knüpfte Simmons hier an. In diesem Zusammenhang war es außerdem hilfreich, dass Dickens mysterygerecht auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Unfall starb.
Solche realen Ereignisse werden vom Verfasser entweder aufgegriffen, aber auch chiffriert und verfremdet. Zusammen mit unzähligen Anspielungen, die den Roman zur Freude literaturhistorischer "nitpicker" durchziehen, machen sie "Drood" zum Selbstbedienungsladen, in dem jeder Leser finden kann, was ihm gefällt. Das ist die positive Deutung, denn "Drood" ist auch ein mit Überraschungen allzu prall gefüllter Koffer, dessen Inhalt dem Leser beim Öffnen um die Ohren fliegt. Der Rezensent kann und mag hier kein abschließendes Urteil treffen, sondern beschränkt sich auf die (persönliche) Feststellung, dass sich selten ein Buch mit 1000 Seiten auch ohne roten Faden so flüssig und spannend lesen ließ wie "Drood".
Dan Simmons, Heyne
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