Das Grau der Hölle

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1994
  • 0
Das Grau der Hölle
Das Grau der Hölle
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Michael Drewniok
65°1001

Phantastik-Couch Rezension vonMär 2009

Schuld stirbt nicht mit dem Tod

80 km nördlich von New York City liegt die berühmte Militärakademie West Point. Seit 1802 werden in dem ehemaligen Fort am Ufer des Hudson River Kadetten ausgebildet; sie stellen später die meisten Offiziere der US-Army. Die Anlage ist riesig, viele Gebäude stammen noch aus dem 19. Jahrhundert.

Die Unterkünfte der 47. Division sind deutlich jünger. Dennoch gibt es in dem nüchternen Zweckbau ein Zimmer, in dem es spukt. Ein in die graue Armee-Uniform des frühen 19. Jahrhunderts gewandeter Soldat geistert umher, und trauriges Kindergeschrei wird hörbar. Kompanieführer John Tetzel wird nach einer in dem Raum verbrachten Nacht gründlich von seinem Unglauben kuriert. Hilfesuchend wendet er sich an die Militärpsychologen Sam Bondurant und Liam FitzDonnell.

Diese gehen streng wissenschaftlich an das Problem heran, das sie als kollektives Hirngespinst betrachten, obwohl die Recherchen von Maggie Bondurant, Sams Ehefrau, zu Tage bringen, dass die Geistererscheinungen kein modernes Phänomen sind. Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten geht es an dieser Stelle um: Hier stand einst die Unterkunft des Offiziers Adonijah Proctor, dessen Gattin und Tochter durch einen Brand ums Leben kamen. Nach seinem Tod gesellte sich der unglückliche Ehemann und Vater zu seinen Lieben. Dass später über der Stätte ihres Heims eine Kadettenunterkunft errichtet wurde, änderte nichts an ihrem nächtlichen Erscheinen.

Mit moderner Video- und Audiotechnik rücken Bondurant und FitzDonnell dem Spuk zu Leibe. Damit erregen sie die Aufmerksamkeit der Gespenster. Diese sind Gefangene einer geheimen Tragödie, die endlich aufgedeckt werden muss, damit sie ihren Frieden finden. Allerdings gibt es eine weitere Macht, die dies mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Für Bondurant und FitzDonnell wird das spannende Experiment zur Heimsuchung: Die Geister, die sie riefen, werden sie nicht mehr los ...

Was ist eigentlich ein Geist?

„Das Grau der Hölle" ist eine seltsame Geistergeschichte. Als Auftakt einer Buchbesprechung klingt das nicht gerade vielversprechend. Doch genau diesen zwiespältigen Eindruck hinterlässt das Buch. Die Handlung ist mit einigem Ehrgeiz konzipiert und nicht nur in den ‚übernatürlichen‘ Passagen exakt recherchiert. Autor O'Neill war selbst viele Jahre in West Point tätig und kennt den Ort und die Abläufe innerhalb einer militärischen Anlage, die in vielerlei Hinsicht eine Welt für sich darstellt.

Die Prämisse eines Geisterspuks in der Soldatenwelt liegt eigentlich nahe. Schließlich ist der frühe und gewaltsame Tod fester Bestandteil des militärischen Alltags, auch wenn dies ungern in dieser Offenheit vermittelt wird. Allerdings basiert O'Neills Gespenstertreiben nur marginal auf einem Sterben im Kampf. Das zusätzliche Erscheinen eines jenseitigen ‚Vermittlers‘ in Gestalt eines alten Vietnam-Kumpels gehört erst recht nicht zu den guten Einfällen des Verfassers.

O'Neill geht das Phänomen des Spukes objektiv an. „Das Grau der Hölle" wirkt über viele Seiten wie eine Bestandsaufnahme der modernen parapsychischen Forschung, deren ernsthafte Vertreter sich trotz zumeist ernüchternder Ergebnisse jenen Methoden und Regeln unterwerfen, nach denen Forschungsergebnisse beweiskräftig zu dokumentieren sind. Akkurat stellen Bondurant und FitzDonnell den Maschinenpark dar, mit dem sie dem Mysterium auf die ektoplasmatische Pelle rücken: Geister gibt es für die Wissenschaft nur, wenn sie sich eindeutig belegen lassen.

Viele Gedanken hat sich O'Neill über das Wesen des Gespenstes gemacht. Diese sind nicht originell, weil als Thesen schon längst diskutiert, aber sie werden überzeugend dargestellt: Geister sind folglich ganz klassisch das unsterbliche Element des Menschen - die Seele -, die durch heftige emotionale Konflikte nach dem Tod nicht in eine jenseitige Existenz überwechselt, sondern am Ort ihres meist leidvollen Sterbens verharrt und diese qualvollen Momente wieder und wieder durchleidet.

Rätsel werden spannend gelöst

Das dem Spuk in West Point zugrunde liegende Ereignis ist Teil einer nur bruchstückhaft überlieferten Vergangenheit, die zunächst mühsam rekonstruiert werden muss. In diesen Passagen läuft O'Neill zu großer Form auf. Zwischen der Arbeit des Historikers, des Psychologen und der des Kriminologen gibt es deutliche Parallelen, die der Verfasser klug zu nutzen weiß. Mühsam werden die vorhandenen und zu Tage geförderten Steinchen zum Mosaik zusammengesetzt, das die ganze Wahrheit enthüllt. Alte Bücher, fragmentarische Zeugenaussagen, Gerüchte, sogar Träume - O'Neill bedient sich der gesamten Palette spannungsförderlicher Ermittlungsmethoden, zu denen sich unverhofft noch Sabotage gesellt.

Auch der Spuk selbst wird wirkungsvoll in Szene gesetzt. Meist ‚sieht‘ man ihn durch die Linse der installierten Kamera oder ‚hört‘ ihn durch eines der installierten Mikrofone. Da die technischen Geräte der Herausforderung nur bedingt gewachsen sind, muss der Leser die lückenhaften Informationen selbst ergänzen. O'Neill kennt die Tricks, mit denen er sich davor drücken kann, Farbe zu bekennen: Wenn die Figuren endlich auf die Technik verzichten und persönlich an den Ort der Geistererscheinungen stürmen, stellt sich ihnen sicherlich ein Hindernis in den Weg. Auf diese Weise wird die eigentliche Konfrontation mit dem Grauen hinausgezögert. Das muss so sein, denn sie soll den Höhepunkt des Geschehens bilden. Der lässt an Dramatik wenig zu wünschen übrig. Die Rätsel werden endlich gelöst, wobei die Hauptpersonen in Lebensgefahr geraten.

Weniger ist manchmal mehr ...

Leider war O'Neill entweder nicht willens oder nicht fähig, ‚nur‘ einen guten Gruselroman zu schreiben. „Das Grau der Hölle" ist deshalb allzu reich an Psychogrammen diverser Figuren, die oft genug nur Nebendarsteller sind. (Mit dem Ausbildungsoffizier Track Dortmunder - harte Schale, weicher Kern - gelingt dem Verfasser ein besonders aufdringlicher Klischee-Charakter.) Lokalkolorit ist nützlich, weil der Stimmung dienlich. Sie darf freilich nicht zum Selbstzweck gerinnen. Gern gerät der Autor auf Abwege, präsentiert sogar Paradebeispiele rüden Soldaten-‚Humors‘, dessen Komik sich wohl nur dem „Gedienten" erschließt.

Obwohl Soldat, mangelt es O'Neill als Erzähler an Selbstdisziplin. „Das Grau der Hölle" ist ein Roman, der oft nur im ‚schnellen Vorlauf‘ lesbar bleibt. Seine Hauptfiguren stattet der Verfasser mit unendlich detaillierten Hintergrundinfos aus. Wir lernen gemeinsam mit Sam Bondurant Maggie kennen, erleben verschiedene Ehezwiste mit, müssen Maggies innerem Ringen mit dem Kinderwunsch beiwohnen, folgen Liam FitzDonnell in seine komplizierte Beziehung mit der kapriziösen Annie - und langweilen uns fürchterlich! O'Neill verfügt über die ungewöhnliche ‚Gabe‘, uns seine Figuren ad nausam zu schildern, bis deren Sorgen & Nöte uns völlig gleichgültig lassen. Soldaten sind auch Menschen: Wenn es DAS ist, was uns O'Neill deutlich machen will, rennt er vehement offene Türen ein.

Letztlich klafft eine unüberbrückbare Kluft zwischen O'Neills Anspruch und dem Unterhaltungswert seines Romans, der eben nicht durch ‚literarische‘ Einschübe lesbarer wird. Das schließt die Geister ein, deren Intention abschließend vergleichsweise unbedeutend erscheint. Einerseits ist das nur konsequent, andererseits hat O'Neill die Erwartungshaltung so stark geschürt, dass seine Auflösung enttäuscht und nur enttäuschen kann. „Das Grau der Hölle" erweist sich als unzufrieden stimmendes, weil trotz seiner durchaus gelungenen Elemente unausgegorenes, nie in ein stimmiges Ganzes mündendes Werk.

Das Grau der Hölle

Timothy R. O'Neill, Goldmann

Das Grau der Hölle

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