Millenium - Eine Jahrtausendliebe
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 1985
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Nicht nur die Zeit gerät aus den Fugen
Wenn nachts das Telefon von William „Bill“ Smith klingelt, kann er sicher sein, dass ihm anstrengende und vor allem furchtbare Tage oder Wochen bevorstehen: Ihn, den Leiter der Unfalluntersuchungskommission, ruft man, wenn ein Verkehrsflugzeug abgestürzt ist. Dieses Mal ist das Unglück besonders tragisch, denn über Kalifornien sind an einem Sommertag des Jahres 1983 gleich zwei große, gut besetzte Maschinen abgestürzt. Niemand dieser mehr als 700 Insassen hat überlebt.
Louise Baltimore ist eine Menschenfrau aus der Zukunft. 50 Jahrtausende nach Bill Smith hat sich die Erde in einen von Umweltzerstörung gezeichneten und unwirtlichen Planeten verwandelt. Die Menschheit droht auszusterben, denn die Schäden haben sich tief in den genetischen Code eingefräst. Obwohl die Medizin enorme Fortschritte erzielt hat, ist die Lebenserwartung auf Mitte 30 gesunken; viele Krankheiten und vor allem die kollektive Unfruchtbarkeit lassen sich nicht mehr in den Griff bekommen.
Um das unausweichliche Ende aufzuhalten, wurde das TOR-Projekt in Gang gesetzt: In dieser Zukunft existiert eine funktionstüchtige Zeitmaschine. Sie wird dorthin in die Vergangenheit geschickt, wo ein Unglück Menschen in großer Zahl dahinrafft. Weil sie auf diese Weise aus der Statistik des Universums gestrichen werden, kann man sie ‚abfischen‘, ohne dass ein verhängnisvolles Zeitparadox entsteht. In der Zukunft werden diese Menschen die Besatzung eines Superraumschiffs bilden, das zu einer „neuen“, lebensfreundlichen Erde starten wird.
Trotz eingeschliffener Routinen geht meist etwas schief. Dieses Mal verliert einer aus Louises Team seine Waffe. Sie muss unbedingt gefunden werden, bevor ein Mensch des 20. Jahrhunderts sie findet. Mehrere Versuche scheitern, dann wird Smith auf das Objekt aufmerksam - und löst ein Zeitbeben aus, das binnen einer Woche Louises Zukunft erreichen und zerstören wird. In wilder Panik will man retten, was zu retten ist - und zappelt immer tiefer in den Falten einer sich störrisch gegen die ‚Korrektur‘ wehrenden Zeit ...
Die Zeit - ein heikler Diener
Eine Basis für die Entstehung der Science Fiction war definitiv der Traum von der Reise durch die Zeit. Was gewesen ist und was sein wird, möchte der neugierige Mensch mehrheitlich gern wissen. Wer größer denkt (bzw. größenwahnsinnig ist), glaubt sicherlich auch an die Möglichkeit, am Zeitstrang zu rütteln, ihn zu manipulieren und so zu lenken, dass er sich profitabel nutzen (= missbrauchen) lässt.
Besagte Science Fiction lebt davon, dass entsprechende Bemühungen selbstverständlich schieflaufen. Realiter weiß man nicht einmal, ob die Zeit wirklich als „Strang“ anzusehen ist. Es existieren zahlreiche, gleichermaßen mögliche wie (bisher) nicht zu beweisende Modelle. Gemeinsam ist ihnen der Rat zur Vorsicht: Unabhängig von ihrer ‚Gestalt‘ bleibt die Frage offen, wie sich die Zeit verhalten würde, könnte man sie beeinflussen.
John Varley geht klassisch vom alles zerstörenden Paradox aus. Wenn etwas den Zeitstrom - bleiben wir bei diesem Bild - stört, sorgt dies ‚flussabwärts‘, also in der Zukunft, für Veränderungen, die sich verstärken, je größer die Differenz zwischen Störung und Zukunft ist. Das versehentlich ausgelöste „Zeitbeben“ von 1983 hat genug - nun, „Zeit“ eben, um Louise Baltimores Zukunftswelt buchstäblich zu löschen und mit einer neuen Gegenwart zu überschreiben.
Der Kampf gegen das Unvermeidliche
Ungeachtet der Weltuntergangsstimmung, die Louises ‚Gegenwart‘ prägt, ist man nicht gewillt, sich quasi von der Tafel wischen zu lassen. Schließlich arbeitet man seit vielen Jahren an einem aufwändigen Plan, der den Neustart der Menschheit an neuer Stätte vorsieht. Deshalb wird zunehmend verzweifelt mit der Zeit gerungen, die sich als schwer fassbarer Gegner erweist.
Dafür sorgt Autor Varley, der die Zeitreise durch diverse Einschränkungen erschwert. Man kann nicht einfach dorthin zurückspringen, wo etwas ausgerichtet werden kann, sondern muss sich einer Zeit beugen, die es u. a. verhindert, dass man einen von Reisenden bereits ‚genutzten‘ Zeitraum noch einmal besucht. Louise und ihre Teamgefährten müssen durch Zeitlöcher schlüpfen, die sich anschließend schließen.
Dass Wissen und Ausbildung gegen den Faktor Zufall nicht wirklich etwas ausrichten, ist eine von Varley oft und klug eingesetzte Hürde. Was immer du außerhalb ‚deiner‘ Zeit tust, hat Konsequenzen - und das erst recht, wenn in der Hektik die Einsätze nicht ‚chronologisch‘ ablaufen, weshalb Louise manchmal Bill trifft, ohne ihn zu kennen: Nur aus seiner Sicht haben sie sich schon getroffen.
Liebe als Nachbrenner der Apokalypse
Die Erde der Zukunft als Welt des Untergangs bzw. die Erde der Gegenwart zwischen den Trümmern abgestürzter Großflugzeuge: Wo findet da die „Jahrtausendliebe“ ihren Platz? Ebenfalls klassisch geht Varley davon aus, dass die Liebe an den unwahrscheinlichsten Orten gedeihen kann. Allerdings gelingt ihm die Schilderung des Chaos’ so gut, dass es schwerfällt, ihm diesbezüglich Glauben zu schenken. Tatsächlich bricht besagte Liebe zwischen Bill und Louise recht unvermittelt aus; als Leser fühlt man sich überrumpelt, auch wenn allmählich deutlicher wird, was diese beiden so unterschiedlichen Menschen miteinander verbindet - oder eben nicht, wie uns Varley in einem ebenso erhellenden wie ernüchternden Epilog verdeutlicht.
Es liegt auch daran, dass weder Bill noch Louise besonders ‚tauglich‘ für die Liebe erscheinen. Bill zieht an einer Stelle Bilanz über seine Beziehungen; sie fällt trübe aus. Louise ist Kind einer Welt, in der die Liebe höchstens als verblasstes Ideal bekannt ist; schließlich verbirgt sie wie die meisten Mitbürger ihren krankheitszerfressenen Echtkörper unter einer raffinierten Maske. Eigentlich wirkt die „Jahrtausendliebe“ ziemlich tragisch - und sie leidet zusätzlich unter den Erfordernissen einer Mission, die endgültig aus dem Ruder zu laufen droht und letztlich Gott persönlich auf den Plan ruft ...
Varley hat gut recherchiert und kann Bill Smith authentisch als Unfallexperten zeichnen. Quasi nebenbei, aber tatsächlich der Geschichte nützlich lässt er einschlägige Informationen einfließen, die zusätzlichen Reiz dadurch gewinnen, dass die beschriebene Hightech lange nach 1983 anachronistisch geworden ist. Die Methoden sind weiterhin gültig, weshalb man dem Geschehen problemlos folgen kann. Dies gilt auch für die Ereignisse in ferner Zukunft. Varley belässt es mit Andeutungen gewaltiger Veränderungen. Er konzentriert sich auf das TOR-Projekt, in dem Louise Baltimore einem Job nachgeht. Sie beschreibt uns ihren Alltag, der daraus besteht, Menschen aus abstürzenden Flugzeugen zu entführen sowie durch ‚künstliche‘ Leichen zu ersetzen, sodass ihr Fehlen später nicht auffällt. Je intensiver sich die Zeitstränge verheddern, desto turbulenter wird das Geschehen. Man muss sich konzentrieren, damit der Plot nicht verschwindet. Gelingt es, kann man sich einer SF erfreuen, die plotkonzentriert bleibt und zügig auf den Punkt kommt - und der erweist sich in einem Prolog, der mit gutem Grund dem Epilog folgt, statt den Roman einzuleiten, als echte Überraschung!
„Millenium“ im Kino
1989 kam der Film nach Varleys Roman in die Kinos. In Deutschland tauchte das zweite „n“ in „Millennium“ wieder auf, hinzu kam der Untertitel „Die 4. Dimension“; ein Alternativtitel lautete „Millennium - Entführung in die Zukunft“. Die Regie ging an den Veteranen Michael Anderson (1920-2018), der in seiner langen Laufbahn u. a. Genrekost wie „Logan’s Run“ (1976, „Flucht ins 23. Jahrhundert“), den Klassiker „Around the World in Eighty Days“ (1956, „In 80 Tagen um die Welt“), aber auch Gurken wie „Doc Savage - The Man of Bronze“ (1975, „Doc Savage - Der Mann aus Bronze“) inszeniert hat.
In den Hauptrollen sah man zu dieser Zeit durchaus prominente Gesichter: Kris Kristoffersen (1936-2024) spielte Bill Smith, das Ex-Modell Cheryl Ladd Louise Baltimore. John Varley, Autor der Buchvorlage, verfasste selbst das Drehbuch. Das Ergebnis fand wenig Aufmerksamkeit oder gar positive Kritik. Die aufgrund eines achtbaren Budgets ansehnlichen Tricks überrannten wie so oft die Handlung; während die „Jahrtausendliebe“ zwischen Bill und Louise nicht recht zündete. In der Rückschau und ohne Vorab-Erwartungen ist „Millennium“ ein angestaubter, aber (auch deshalb) unterhaltsamer Film.
Fazit:
Ereignisstarkes, dabei die Eigenheiten und Tücken der Zeitreise aufgreifendes und in eine spannende Handlung integrierendes SF-Abenteuer, das auch der Liebe Raum bieten will, in diesem Punkt aber nicht so erfolgreich ist: gut gealtertes Garn mit gleich mehreren finalen Überraschungen.

John Varley, Bastei-Lübbe
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