Das Geheimnis des Wilhelm Storitz
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- Erschienen: Januar 1984
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Eine phantastisch angehauchte Geschichte von Neid und Missgunst
"Für gebildete Menschen konnten diese Kuriositäten nur von einer physikalischen oder chemischen Erfindung herrühren. Doch für die Gemüter der Minderbemittelten erklärte sich alles mit der Macht des Teufels, und Wilhelm Storitz würde als Teufel in Menschengestalt gelten."
Henry Vidal befindet sich auf dem Weg nach Ragz, um Myra Roderich, die Verlobte seines Bruders Marc kennenzulernen. Auf seiner Reise erfährt er von Wilhelm Storitz, der ebenfalls um Myras Hand angehalten hatte, aber von deren Vater abgelehnt wurde. Dieser Wilhelm Storitz soll der Sohn eines deutschen Gelehrten sein, dem man magische Fähigkeiten nachsagt. In der Tat hat Wilhelm Storitz sein Streben, Myra für sich zu gewinnen, noch nicht aufgegeben. Um seine Pläne zu verwirklichen, greift er zu einem Mittel, das unsichtbar macht. Schon bald finden sich Henry, Marc und Myra im Zentrum unheimlicher Ereignisse wieder.
Ein Phantom, das die Gedanken der Figuren beherrscht
Sind die ersten beiden Kapitel - Jules-Verne-typisch - noch stark geprägt von den Reiseeindrücken Henrys, ereignen sich doch hier bereits erste unerklärliche Vorkommnisse, die im Rückblick wie erste Ausläufer eines beginnenden Gewitters anmuten. Auch Henrys erste Tage in Ragz, die er hauptsächlich mit Myras Bruder Haralan verbringt, werden von erschöpfenden Beschreibungen der Stadt bestimmt. Doch auch hier blitzen immer wieder kurze, unerklärliche Störungen in der vermeintlichen Idylle auf. Anfangs lassen sich diese noch leicht als Einbildung oder Zufälle wegwischen, doch nach und nach nehmen diese Belästigungen an Heftigkeit zu und lassen als Ziel eindeutig Myra Roderich und Marc Vidal erkennen.
Hier konzentriert sich Jules Verne zunehmend auf die eigentliche Story seines Romans. Die Handlung verlagert sich von den allgemeinen Eindrücken Henrys hin zur Familie Roderich, den Vidal-Brüdern und dem verhassten Storitz. Dessen Attacken gegen das Paar nehmen an Heftigkeit zu, bleiben indes aber unerklärlich, da Storitz nirgendwo gesichtet wird. Und doch kann die treibende Kraft hinter den merkwürdigen Ereignissen nach Meinung der Familie Roderich nur der zurückgewiesene Wilhelm Storitz sein. So wird Storitz zu einem Phantom, das, obwohl abwesend, die Gedanken der Figuren beherrscht. Erst nach einem blasphemischen Angriff auf die kirchliche Trauung der Brautleute wird (sehr schnell) die Erklärung akzeptiert, dass Storitz von seinem Vater das Geheimnis der Unsichtbarkeit geerbt hat. Das Bekanntwerden dieses Umstands führt zu einer Massenpanik in Ragz, gefolgt von einigen schon skurrilen Ausbrüchen der Bevölkerung.
Diese aktionsreichen Szenen und die nachfolgende "Entführung" Myras durch Storitz, sowie dessen Tod, nehmen den kleinsten Teil des Romans ein. Man kann behaupten, dass sich die Handlung des Romans zum Ende hin sehr schnell entwickelt und dadurch ein Ungleichgewicht zu vorher gewissenhaft aufgebauten Handlung herrscht. Fast scheint es, als wolle Jules Verne das Geheimnis der Unsichtbarkeit nicht ergünden. Alle Aussagen und Erklärungen dazu bleiben vage oder ganz aus. Beispielsweise wird nicht erklärt, wie denn die Kleidung eines Menschen, der den unsichtbar-machenden Trank zu sich nimmt, unsichtbar wird, während Gegestände, die derjenige anfasst, sichtbar bleiben. Die Stärken liegen indes in der Charakterzeichung der Familie Roderich und den Vidal-Brüdern, die in ständigen Zwiespalt zwischen Rachsucht und Vernunft hin- und hergerissen sind. Ein weiterer Pluspunkt sind die sehr geschliffenen und fast schon höfischen Dialoge in Haus der Roderichs.
Die Geschichte in ihrer ursprünglichen Form
Oft als bloßer Abenteuer- und Jugendautor übersetzt (Passagen, die Anstoß erregen konnten, wurden einfach weggelassen oder verfälscht) und vermarktet, offenbarte Jules Verne mit zunehmendem Alter auch eine zynische und pessimistische Seite. "Das Geheimnis des Wilhelm Storitz" war zuvor lediglich in einer umfangreichen Bearbeitung/Entschärfung von Jules Vernes Sohn Michael Verne erhältlich. Die vorliegende Piper-Ausgabe enthält erstmals die Übersetzung der Originalversion. Die Entschärfung erklärt sich wohl aus den zahlreichen deutschenfeindlichen Passagen des Werks. Diese Sicht auf den Roman sollte freilich heute längst überholt sein und "Das Geheimnis des Wilhelm Storitz" sollte als die phantastisch angehauchte Geschichte von Neid, Missgunst und Besitzwahn stehen, als die sie gedacht war.
Piper muss gedankt werden für den Aufwand, diese Geschichte in ihrer ursprünglichen Form übersetzen zu lassen und zu veröffentlichen. Schon die Auswahl des Vorwortschreibers, Dr. Franz Rottensteiner, zeigt auf, dass man es bei "Das Geheimnis des Wilhelm Storitz" nicht mit einem belanglosen Jugendroman zu tun hat.
Der Buchumschlag der Piper-Ausgabe ist sehr schön gestaltet, lässt aber eher an einen Expeditionsroman denken.
"Doch wir waren immer noch weit davon entfernt, die Geheimnisse dieser Geschichte zu durchschauen. Und wer wusste, ob wir sie jemals aufdecken würden?"
Jules Verne, -
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