Die Vampire

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2009
  • 8
Die Vampire
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Michael Drewniok
100°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2008

Draculas Griff nach der Weltherrschaft

I - Anno Dracula (S. 7-461)

Im Jahre 1885 haben Abraham van Helsing und seine Gefährten im Kampf gegen den Vampirfürsten Dracula, der sich aus Transsylvanien nach England begab, um seinen Machtgelüsten zu frönen, schmählich versagt. Dracula vernichtete seine Widersacher und stieg gesellschaftlich steil auf. 1886 ehelichte er gar die Königin Viktoria und ist seither nominelles Oberhaupt des britischen Weltreichs. London ist eine Hochburg von Vampiren geworden, die ihr verstecktes Dasein aufgegeben haben und ohne Scheu neben den warmblütigen Menschen leben. Ihre Zahl nimmt ständig zu, weil sich vor allem die „Neugeborenen" nicht bändigen können und mit ihren Bissen immer neue Vampire hervorbringen.

1888 ist die Lage gespannt. Menschen und Vampire leben in Unfrieden, seit Dracula damit begonnen hat, alle politisch relevanten Positionen mit Seinesgleichen zu besetzen. Regimegegner wie Bram Stoker oder Sherlock Holmes verschwanden in Konzentrationslagern. Bürgerkrieg liegt in der Luft, der durch Draculas brutale Schergen geschürt wird.

In dieser brisanten Situation beginnt „Silver Knife" seine Schreckensherrschaft. In den übelsten Vierteln der Stadt überfällt er vampirische Prostituierte, um sie auf grässlichste Weise abzuschlachten. Er brüstet er sich seiner Taten und ist stolz auf den Namen, den die Presse ihm gibt: „Jack the Ripper" ...

Um die immer stärker aufflackernden Konflikte einzudämmen, schickt der „Diogenes Club" - der britische Geheimdienst - seinen besten Mann auf die Jagd nach dem Schlächter. An der Seite der schönen Vampirfrau Geneviève Dieudonné kommt Charles Beauregard nicht nur Jack the Ripper, sondern auch Draculas streng geheimen Plänen für ein vampirisches Empire auf die Spur ...

II - Der Rote Baron (S. 463-915)

Dracula entkam den britischen Revolutionären, die ihn 1888 vom Thron stießen; er floh auf den Kontinent, wo er damit begann, die verlorene Macht zurückzugewinnen. Von Königshaus zu Königshaus wandernd, verwandelte er die gekrönten Häupter Europas in Untote. 1905 schlug Draculas Stunde, als er einen Bundesgenossen fand, der sich als idealer Strohmann erwies: Wilhelm II., deutscher Kaiser, der von einem Weltreich träumt und bereit ist, Deutschland mit Waffengewalt einen Platz an der Seite der Groß- und Kolonialmächten zu verschaffen. Dracula wurde Wilhelms Vertrauter und stieg zum Kanzler des Deutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Streitkräfte auf.

1914 brach der von Dracula mit entfesselte I. Weltkrieg aus. Im Frühjahr 1918 toben die Kämpfe mit unverminderter Härte. Im Westen zieht sich die Front durch Holland, Belgien und Frankreich. Für das Reich und seine Verbündeten scheint der Krieg allerdings verloren. Dracula gedenkt jedoch nicht aufzugeben. Sein alter Feind Charles Beauregard, ein hochrangiges Mitglied des britischen Geheimdienstes, begibt sich an die Front. Er findet heraus, dass Dracula im Château du Malinbois eine Geheimwaffe entwickeln lässt, die den „Kaiserangriff", eine gewaltige deutsche Gegenoffensive, einleiten soll ...

III - Dracula Cha-Cha-Cha (S. 917-1280)

1959 lebt Dracula als reicher, scheinbar dem Müßiggang ergebener High-Society-Vampirfürst in Rom. Gerade wurde seine Heirat mit der Vampir-Ältesten Aja Vajda angekündigt, die in der Presse großes Aufsehen erregt. Der britische Geheimdienst vermutet ein Komplott, das Dracula zurück an die Macht in Transsilvanien, jetzt Rumänien, bringen soll; womöglich arbeitet er mit den Kommunisten zusammen, was im Zeitalter des Kalten Kriegs für die allerhöchste Alarmstufe sorgt. Charles Beauregard, inzwischen zur Grauen Eminenz des „Diogenes Club" aufgestiegen, ist mit seinen 106 Jahren allerdings zu alt, um den seit Jahrzehnten währenden Kampf mit Dracula fortzusetzen. Commander Hamish Bond, ein Agent der neuen Zeit, wird zu seinem verlängerten Arm.

Während im Palazzo Otranto die Vorbereitungen für die große Hochzeit getroffen werden, treibt in Rom ein maskierter Vampirmörder sein Unwesen. Er hat es nur auf die ältesten Blutsauger abgesehen, von denen er bereits 17 spektakulär umgebracht hat. Die nach Rom gereiste Journalistin Kate Reed, die ihren alten Freund Beauregard besuchen möchte, wird zufällig in die Ereignisse verwickelt. Gemeinsam mit der Ältesten Geneviève Dieudonné, Hamish Bond und dem Paparazzi Marcello macht sie sich daran, die aktuellen Schlichen Draculas aufzudecken ...

Die Neuzeit als Ära der Blutsauger

Natürlich waren sie niemals fort, doch Anfang des 21. Jahrhunderts sind sie so präsent wie nie: die Vampire, aus dem Grab auferstehende Nachzehrer, die in der Nacht nach Menschenblut gieren! Zwar dominieren derzeit bleiche Schmachtlappen („Edwards") sowie (hirn-) tote Schuhfetischistinnen („Betsys") und tumbmannstolle Kellnerinnen („Sookies") die Wiedergänger-Szene, doch erwachen in ihrem seichten Kielwasser glücklicherweise auch die Schwergewichte des Horror-Genres zum ‚Leben‘.

Kim Newmans Dracula ist aber auch kein altmodischer, aristokratischer Blutsauger, der ein rotgefüttertes Cape trägt, des Nachts jungfräuliche (aber geile) Jungfrauen überfällt und sich darauf beschränkt, seine Allmachtfantasien aus den Grüften baufälliger Burgen und Klöster heraus zu verwirklichen. Dass der wahre Fürst der Vampire mehr sein kann als der simple Buhmann unterhaltsamer Mitternachts-Vorstellungen, hat u. a. Francis Ford Coppola eindrucksvoll in den Rückblenden seines „Dracula"-Films von 1992 bewiesen. Der zeitgenössische Vlad Tepes II. (1433-1477) war zu seinen Lebzeiten nicht nur ein grausamer, sondern auch ein sehr erfolgreicher Herrscher, dem es als „Woiwode" der (später rumänischen) Walachei über Jahrzehnte gelang, die mächtigen und expansionswütigen türkischen und bulgarischen ‚Nachbarn‘ in Schach zu halten. In der Wahl seiner Mittel war er gewiss nicht wählerisch, aber Kriegsherren wie ihn gab es im Mittelalter viele. Das Recht war mit dem Erfolg jedenfalls auf seiner Seite und bewies, dass Vlad, der gefürchtete Pfähler, ein entschlossener und auch intelligenter Mann gewesen ist.

Diese Eigenschaften sollte er folgerichtig auch nach seiner Wiederauferstehung als Vampir bewahrt haben. Insofern setzt Kim Newman und nicht Bram Stoker dem ‚wahren‘ Dracula ein literarisches Denkmal. Newmans Dracula ist ein rücksichtsloser, zu allem entschlossener Krieger - und ein Überlebenskünstler. Das lässt ihn immer wieder aus schier aussichtslosen Situationen entkommen.

Andererseits bleibt Dracula in der modernen Welt ein Anachronismus. Er spielt geschickt die Königshäuser Europas gegeneinander aus, und als Oberbefehlshaber der deutschen Armee weiß er die technischen Errungenschaften seiner Zeit einzusetzen. Dennoch ist er in seinem Denken noch immer dem Mittelalter verhaftet, in das er geboren wurde. Die Konflikte, die er 1888 und 1914 entfesselt, wie er es seit Jahrhunderten tut, um sich zu nehmen, was er begehrt - die uneingeschränkte Macht -, entgleiten schließlich seiner Kontrolle, weil er sie nicht steuern kann. Am Ende steht Dracula vor den Scherben seiner Vision. Freilich wird ihn das nicht abhalten, es aufs Neue zu versuchen.

Eine fremde und doch vertraute Vergangenheit

Mit erstaunlicher Sicherheit weiß Autor Newman die reale Geschichte des späten 19. und 20. Jahrhunderts mit seiner erfundenen Historie zu verquicken. Bei ihm wirkt es völlig logisch, dass Jack the Ripper ein irrer Vampir-Schlächter ist, dass die Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo 1914 den Weltkrieg auslösten, weil seine serbischen Untertanen es ertrugen, von einem Untoten regiert zu werden, oder dass Roms „la dolce vita" erst durch vampirische Präsenz erst richtig dekadent wirkt.

Vor den drei großzügig aber auch im Detail vortrefflich ausgemalten Hintergründen müssen Newmans Plots fast notgedrungen ein wenig verblassen. In „Anno Dracula" ist es der Zauber des Neuen, der den Leser über die faktische Dünnblütigkeit der Geschichte täuscht und tröstet. Man bewundert den immensen Einfallsreichtum, den Newman besonders in der ersten Hälfte aufbringt. Hier zehrt der Verfasser von einer früheren Novelle („Red Reign", erschienen 1991), deren Erzähldichte er nicht über die gesamte Romandistanz retten kann. Das Finale von „Anno Dracula" ist primär blutig, aber es kann das Übergewicht des überragenden Auftakts nicht austarieren.

Ähnlich ergeht es dem „Roten Baron", zumal dieser Roman das bekannte Muster nur variiert - dies freilich erneut mit einer überschäumendem Ideenflut. Newman greift hier ungleich tiefer in die Historie ein. In die komplexe Weltgeschichte am Vorabend und nach Beginn des I. Weltkriegs, die er meisterhaft als Folge Draculascher Ränken umdeutet, baut er die eigene, in „Anno Dracula" geschaffene Vorgeschichte ein. Lose Enden liebt Newman nicht; was im ersten Band ungeklärt blieb, greift er garantiert wieder auf und beschränkt sich dabei längst nicht nur auf die große Zahl der bereits eingeführten Figuren. Selbst kleine Nebenrollen können wieder auftauchen oder finden zumindest Erwähnung.

Der „Fliegende Zirkus" des Barons von Richthofen und seine Verwandlung in wahre Dämonen der Lüfte ist zweifellos ein enttäuschend ‚normaler‘ Einfall, wie man ihn in jedem x-beliebigen Horror-Roman finden könnte. Aber gleichzeitig besticht „Der rote Baron" durch die sorgfältige, beinahe dokumentarische Schilderung des Kriegsalltags einer- und des (Luft-) Kampfes gegen den berüchtigten von Richthofen andererseits, der sich zwar als blutdürstige, gleichzeitig aber tragische Gestalt entpuppt, die um die Aussichtslosigkeit ihres Tuns weiß.

„Dracula-Cha-Cha" ist auf den ersten Blick eine heitere Variante des Dracula-Motivs. Dracula ist allerdings wesentlich undurchschaubarer geworden. Die daraus resultierende Unsicherheit überträgt sich auch auf den Leser, denn noch stärker als in den beiden Vorgängerbänden limitiert Newman das persönliche Auftreten Draculas. Stets spricht man über ihn, der quasi die unsichtbare Hauptfigur darstellt, aber in persona trifft man ihn erst im Finale, und auch dort macht er sich rar. Nichts ist demaskierender als stetige Präsenz, während eine imaginierte Gefahr die Realität meist übertrifft.

Einerseits bedient sich Newman abermals einer bekannten Plotstruktur: Ein Vampirmörder geht um. Andererseits ist „Dracula-Cha-Cha" noch ‚realitätsferner‘ und abgehobener als die beiden Vorgängerbände. „Dracula-Cha-Cha" spielt nicht in einem Rom, das Teil einer von Vampire bevölkerten Welt ist, sondern in einem Rom, das Federico Fellini 1960 für sein filmisches Meisterwerk „La Dolce Vita" (dt. „Das süße Leben") erschuf und das so nie existierte.

Newman arbeitet die Grundstimmung des Film-Vorbilds - das er mehrfach ‚szenengleich‘ übernimmt (und dabei parodiert) - heraus. Sie eignet sich verblüffend gut als Hintergrund einer mit Mord und Blut nie geizenden Vampir-Story. Dracula passt in das überdrehte Umfeld einer Haute-Volée Welt, die trotz ihres Rock'n'Roll-Gehabes näher am Abgrund steht denn je: Nicht umsonst mischt Newman Fellinis süßes Leben mit Mario Bavas - oder wegen der in die Handlung eingeführten „Mutter der Tränen" wohl besser Dario Argentos - optisch extravaganten Grausamkeiten des italienischen Giallos und erwähnt darüber hinaus die reale Bedrohung der Wasserstoffbombe, in deren Schatten die Furcht vor einem Dracula lächerlich erscheint.

Figurenpersonal aus Realität und Fiktion

Die „Anno Dracula"-Serie gewinnt einen ganz besonderen Reiz aus der Tatsache, dass Autor Newman nicht nur Personen der Zeitgeschichte auftreten lässt, sondern wie selbstverständlich Charaktere zum Leben erweckt, die völlig fiktiv sind und den Werken anderer Schriftsteller entnommen wurden. So kann es geschehen, dass in einem Feldlazarett des I. Weltkriegs H. G. Wells‘ Dr. Moreau neben H. P. Lovecrafts Herbert West, dem „Wiedererwecker", am Operationstisch steht, Jules Vernes Ingenieur Robur seine Kampf-Luftschiffe über Paris schweben lässt oder Norbert Jacques' Dr. Mabuse das deutsche Kriegspresseamt leitet. Aber auch Personen, die tatsächlich gelebt haben, sieht man in Newmans alternativen Welten in völlig neuen Rollen; so begegnet der untote, im Exil lebende Schriftsteller Edgar Allan Poe in den Sälen des Prager Gerichts dem Schreiber Franz Kafka, bevor er im Auftrag Dr. Mabuses nach Frankreich reist, um dort eine Biographie des Flieger-Helden Manfred von Richthofen zu verfassen, dessen Burschen Fritz Haarmann und Peter Kürten heißen ... (In „Dracula-Cha-Cha" schreibt Poe Drehbücher für Roms „Cinecittà".)

Solche an sich absurden Paarungen präsentiert Newman in rascher Folge, und er konstruiert sie so geschickt, dass man ihrer niemals überdrüssig wird. Auf die Spitze treibt er es zweifellos in „Dracula-Cha-Cha"; 1959 kommen sechs Jahrzehnte Film zur Trivialliteratur. Sie schufen einen reichen Fundus ‚moderner‘ Spukgestalten, aus dem sich Newman zusätzlich bedienen kann und skrupellos bedient. Zu den Vampiren, die bisher die hauptsächlichen wenn nicht sogar einzigen Geschöpfe der Nacht darstellten, gesellen sich nun Zombies, der Golem, Frankensteins Ungeheuer, E. T. A. Hoffmanns Puppe Olympia und andere Kreaturen. Was weniger begabten Autoren zu einem Effekt-Overkill verkocht wäre, führt bei Newman zur Öffnung eines weiteren Handlungs-Levels.

„Dracula-Cha-Cha" führt die „Anno Dracula"-Trilogie zu ihrem ebenso logischen wie würdigen Ende. (Was Newman nicht davon abhält, sporadisch an einem vierten Band mit dem Arbeitstitel „Johnny Alucard" zu schreiben, die in den 1970er und 80er Jahren spielen soll und von dem Teilkapitel bereits veröffentlicht wurden.) Dass sie endlich vollständig in deutscher Sprache vorliegt, schließt hierzulande eine echte Lücke in der phantastischen Literatur. Die vorzügliche Übersetzung aller drei Bände vertieft das Lektürevergnügen erheblich. Mit „Die Vampire" hat der Heyne-Verlag mit dem ansonsten ungeliebten Paperback-Format endlich einmal den passenden Rahmen für eine Veröffentlichung gefunden und liefert dem Freund des Genres Grusel vom Feinsten für schmales Geld!

Die Vampire

Kim Newman, Heyne

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