Das Tier vom Vaccarès
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- Erschienen: Januar 1954
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Gelungener Start einer neuen Reihe
Als erstes Buch der Sparte dunkle Fantastik erschien in der neuen Reihe "Zwielicht" des Waldgut-Verlages "Das Tier vom Vaccarés". Der Étang de Vaccarès ist ein flacher salziger Strandsee in der Camargue. Dem Volksglauben nach lebt am Ufer dieses Sees seit Jahrhunderten ein Mischwesen aus Mensch und Ziege. Auf der Grundlage dieser Legende hat der provenzialische Dichter Joseph d'Arbaud seine 1926 zunächst in einer provenzalischen (danach ins französische übertragenen) Ausgabe erschienene Erzählung "La Bèstio dóu Vacarés" verfasst.
Als handschriftliche Notizen eines Gardian - eines Viehhüters - aus dem 15. Jahrhundert verkauft der Verfasser seinen Lesern die Geschehnisse, die in "Das Tier vom Vaccarès" erzählt werden. Dadurch, dass dieser "Cowboy der Provence" ein "wenig gebildeter Mann" gewesen sei, entschuldigt der Autor bereits im Prolog den "geschraubten Stil" der Erzählung.
Im Jahr 1417 war es, als Jacques Roubaud, der Gardian, zum ersten Mal die seltsamen Fußabdrücke sah, die er nicht seinen Rindern zuordnen konnte. Sie waren dünner und länger mit unregelmäßigen Schritten. In den Folgetagen tauchte die Spur immer wieder auf und entfachte die Neugier des Gardian. Nun wollte er unbedingt wissen, von welchem unbekannten Tier diese Fährte stammte und verfolgte sie über Stunden hinweg, ohne den Verursacher ausmachen zu können. Doch eines Tages gelang es ihm, das Wesen im Schilf zu überraschen. Seine Angst war groß, als er erkannte, dass der Kopf des Tieres ein menschliches Antlitz trug. Pures Entsetzen kam in ihm auf, als das Wesen begann, zu ihm zu sprechen. Der Gardian wusste nicht mehr, ob es real war, was er da sah oder ob er träumte.
Diese Begegnung hat ihm so zugesetzt, dass er an einem Fieber erkrankte. Doch seitdem ließ ihm die unheimliche Begebenheit keine Ruhe mehr. Die Faszination des Wesens, seine bemitleidenswerte Erscheinung, hatte ihn gepackt und er musste es wiedersehen. Tage vergingen auf seiner Suche, bis etwas geschah, dass ihn an seinem Verstand zweifeln ließ...
Innerliche Zerrissenheit des Erzählers
Von Entsetzen und Angst über Faszination und Neugier bis hin zu Mitleid und Zuneigung reichen die Seelenzustände des Erzählers im Hinblick auf diese seltsame und für ihn nicht zu begreifende Kreatur, die in der Mythologie als Faun bekannt ist. Eine Art Halbgott, deren Leben Jahrhunderte währt, die jedoch ebenso um ihr Überleben kämpfen muß wie jeder Mensch. Ein Wesen, das die anderen Tiere lenken kann wie ein Gott, dass aber auch Not und Hunger leiden muss. Die innerliche Zerissenheit des Gardian, der nicht weiß, wie er sich gegenüber einer Kreatur, die es gar nicht geben darf, zu verhalten hat, hat der Autor hervorragend dargestellt, indem er die bereits erwähnte Art der Erzählung als Tagebuch aus Sicht des Protagonisten gewählt hat.
Wie kann Roubaud weiter an seinem Glauben festhalten, wenn ein Individuum existiert, das in der Lage ist, Stiere zu lenken und Pferde zu zähmen?
Bereits das erste Buch der Zwielicht-Reihe macht Appetit auf mehr. "Zeitgenössische und historische Entdeckungen und Wiederentdeckungen" will der Verlag bieten, unorthodoxe Bücher mit Anspruch, "die spannend und gleichzeitig geistig anregend und tiefgründig" sind. Das ist ihm hier vollauf gelungen. 16 Euro für ein Buch von etwa 100 Seiten Umfang sind zwar ein stolzer Preis, doch dürfte nicht nur die edle Ausstattung, sondern auch die Auswahl der ungewöhnlichen Titel dafür sorgen, dass die Reihe nicht nur in Sammlerkreisen von sich reden machen wird.
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