Das Zeichen der Lemminge
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1972
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Die Zukunft in den atomaren Sand gesetzt
In einer zeitlich nicht definierten aber nicht allzu fernen Zukunft ist die Welt nach einem dritten Weltkrieg zerstört, verstrahlt und menschenleer. Die USA existiert zwar noch, hat sich aber in eine Diktatur verwandelt, die streng die wenigen noch vorhandenen Ressourcen verwaltet, die selbst für die wenigen Überlebenden kaum ausreichen.
Für zusätzliche Komplikationen sorgt die steigende Zahl von Menschen, die von einem Moment zum anderen buchstäblich den Verstand verlieren. Im Rahmen eines Regierungsprogramms wurde ein Bundeszentrum gegründet, in dem Wissenschaftler fieberhaft versuchen, der Ursache dieses kollektiven Phänomens auf die Spur zu kommen. Eine Heilung ist unmöglich, die ‚Behandlung‘ deshalb radikal: Das verwirrte Hirn des Kranken wird ‚gelöscht‘ und eine neue, vorgeprägte Persönlichkeit ‚aufgespielt‘. Noch ist das Verfahrung in der Erprobungsphase und riskant, die Zahl der Fehlschläge deshalb hoch.
Der Druck auf die Forscher wächst. In der Abteilung von Dr. Korman sorgt der Patient Nr. 27 deshalb für Hoffnung: Alex Parnell hat die Neuprägung glänzend überstanden, und er zeigt auch nicht die übliche geistige Trägheit oder Verwirrung, die der Behandlung normalerweise folgt. Trotzdem entwickelt sich Parnell bald zum Störfaktor, denn er will sich der Disziplin des Zentrums, das er mit einem Gefängnis gleichsetzt, nicht beugen, sondern fordert umfassend Aufklärung über den Zustand der Welt und persönliche Freiheit.
Als man ihm beides nicht zugestehen will, entwickelt sich Parnell zum Rebellen mit einem Einfallsreichtum, der ihn selbst erstaunt, bis er die Wahrheit zu ahnen beginnt: Er erinnert sich an die Person, die er einmal war - ein Mensch, der tief in die tragische Geschichte der jüngsten Vergangenheit verstrickt ist ...
Die Realität am Ende aller Utopien
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam der Welt der Optimismus abhanden - ein Optimismus, der sich indes überlebt hatte. Der kalte Krieg zwischen den Supermächten und ihren Alliierten drohte heiß zu werden; man würde ihn atomar führen und fürchtete die Folgen, ohne in den Vorbereitungen für einen gelungen Erst- oder wenigstens Gegenschlag nachzulassen. Zu den weiteren Sünden der Vergangenheit, die plötzlich relevant weil nicht mehr durch fantastische ‚Technik der Zukunft‘ lösbar schienen, gehörte die Erkenntnis, die eigene Welt rücksichtslos ausgebeutet, zerstört, verschmutzt und überbevölkert zu haben.
Die Zukunft sah nicht mehr utopisch, sondern düster aus - ein Paradigmen-Wechsel, dem sich selbstverständlich auch die Science Fiction nicht verschließen konnte, wollte und durfte. ‚Ökologische‘ SF hatte es schon früher gegeben, doch aus dem einsamen, gern bespöttelten Rufer in der Wüste wurde nun ein Chor, der sich nicht mehr überhören ließ und der beunruhigten Leserschaft Romane wie ";Make Room! Make Room!" von Harry Harrison (1966; dt. "New York 1999", verfilmt 1973 als ";Soylent Green"/";Jahr 2020 ... die überleben wollen") oder Filme wie ";Silent Running"; (1972, dt. ";Lautlos im Weltall") präsentierte, die heute formal altertümlich aber weiterhin erschreckend aktuell wirken.
Des Rätsels grausame Lösung
Howard Berk hieb 1972 mit ";Das Zeichen der Lemminge" ebenfalls in diese Kerbe. Der versierte Autor, der vor allem Drehbücher für TV-Serien schrieb, reiht sich zwar eher unauffällig in die Reihe derer, die den selbst verschuldeten Untergang der Zivilisation darstellten, legt aber eine Geschichte vor, die vor allem in ihren ersten beiden Dritteln fesseln kann (und gewisse gedankliche Assoziationen an Michael Bays ";The Island"/"Die Insel" von 2005 weckt ...).
Berk springt mitten in ein Geschehen, für das er uns die Erklärung zunächst schuldig bleibt. Nur langsam enthüllt sich die Hintergrundgeschichte; unser Wissen wächst zusammen mit den Erkenntnissen, die sich Alex Parnell mühsam zusammenreimt. Natürlich ist das ein Trick, um die Spannung zu schüren; ein Trick freilich, für den es eine schockierend logische Erklärung gibt, die den Höhepunkt und Schlusspunkt dieses Romans bildet.
Etwas Schreckliches ist geschehen, das kristallisiert sich schnell heraus. Was kann es sein, und wieso wird es so sorgfältig geheim gehalten? Hier geht offenbar Böses vor, werden Menschen als Versuchskaninchen benutzt. Doch dahinter wird eine Tragödie sichtbar, die zum radikalen Umdenken zwingt. Nichts ist, wie es scheint. Selbst als es Parnell gelingt, sein ‚Gefängnis‘ zu verlassen, wähnt er sich irrtümlich in Freiheit. Die Wahrheit wartet auf ihn, und als er sie, die er so lange gesucht hat, endlich findet, kann er sie aus gutem Grund nicht verkraften.
Diese Zukunft bleibt Vergangenheit
";Das Zeichen der Lemminge" hat als Roman seine Längen. Vor allem das letzte Drittel wirkt aufgesetzt. Parnell hat sein Gefängnis/Refugium verlassen und lernt die reale Außenwelt der atomaren Nachkriegszeit kennen. Natürlich beantwortet dieser ‚Ausflug‘ diverse Fragen, die sich der Leser lange gestellt hat, aber wie üblich kann die Auflösung dem Geheimnis nicht das Wasser reichen - auch wenn Berk uns wie gesagt erneut in die Irre führt: Parnells scheinbare Flucht ist schon missglückt, bevor sie beginnt. Dies zu verraten ist kein Spoiler, denn zumindest als Leser des 21. Jahrhunderts ist man erfahren genug zu erkennen, dass da noch etwas - des Rätsels eigentliche Lösung - folgen wird. Diese wird auf jeden Fall überraschen, auch wenn mit einer Schockwirkung, wie sie Berk zu erzielen hoffte, wohl nicht mehr zu rechnen ist. Jahrzehnte später sind wir stärkeren Tobak gewöhnt, wenn man uns mit apokalyptischen Szenarien erschrecken will, und dass jeder Regierung alle möglichen Schweinereien zuzutrauen sind, haben wir ebenfalls gelernt ...
1972 war der Themenkomplex, den ich hier ‚Öko-Schock‘ nennen möchte, als breitentaugliches Phänomen noch relativ neu. Gesudelt wird auf und mit dieser Erde auch heute noch, aber ein gewisser Lerneffekt lässt sich nicht leugnen: Es wird etwas getan, und es gibt Anzeichen von Besserung. (Die obligatorischen ";Ja, aber ..."-Gegenargumente erspare ich mir hier - bei Bedarf bitte selbst auflisten.)
Entschlossen mit dem Rücken zur Wand
Ein Mann gegen eine ganze Welt; später gesellt sich eine Frau an seine Seite: Die Konstellation ist klassisch und erprobt. Wie man aus ihr die besten Effekte kitzelt, ist ihm als erfahrener Drehbuchautor sichtlich bekannt. ";Das Zeichen der Lemminge" kann man sich durchaus als Film vorstellen. Ist das Buch aus einem nie verwirklichten Drehbuch hervorgegangen? Über Howard Berk ist leider wenig zu recherchieren, sodass diese Frage hier ohne Antwort bleiben muss.
Heiligt der Zweck wirklich alle Mittel? Am Beispiel seiner Figuren spielt Berk die verschiedenen Antworten durch, die sich aus dieser Frage ergeben. Daraus resultieren Reaktionen, die zunächst einmal mehr durch den Leser, der die der Frage zugrunde liegenden Ereignisse nicht kennt, als ‚normale‘ Handlungsmuster erscheinen, während sie sich tatsächlich schlüssig aus der Ausgangssituation ergeben. Die Schlussfolgerung ist deshalb vielleicht nicht einmal negativ, sondern einfach nur realistisch: Der Lemming kann dem Zug in den Tod entgehen, wenn sein Ausbruchsversuch nur drastisch genug ausfällt.
"I love thee, I love but thee, / With a love that shall not die,Till the sun grows cold, / And the stars are old, And the leaves of the Judgement Book unfold!"
Howard Berk wählte als Romantitel ein Zitat aus dem "Bedouin Song" (1853) des Reiseschriftstellers und Dichters Bayard Taylor (1825-1878); es wird oft William Shakespeare zugeschrieben, was es adeln soll aber unzutreffend ist. Es spielt auf einen zweiten Handlungsstrang an, der sich um Alex Parnells Liebe zur mysteriösen Julia dreht, die so intensiv und innig ist, dass sie das Ende der Welt tatsächlich überstand.
Howard Berk, Goldmann
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