Das Albtraumreich des Edward Moon
- Piper
- Erschienen: Januar 2008
- 11
Eine Tour de Force für Bauch und Hirn
London, im Jahre des Herrn 1901.
Kommen Sie herein, meine Damen und Herrn, immer nur hereinspaziert. Treten Sie ein, meine Herrschaften, hier sehen Sie etwas, das die Welt noch nie gesehen hat. Kaiser und Könige, Gelehrte und Industrielle haben die Wunder, die Sie in Edward Moons Zaubervorstellung erwarten, bereits begeistert, jetzt liegt es an Ihnen, sich dieser illustren Gesellschaft zuzugesellen. Der Eintritt ist gering, um so erstaunlicher sind die Darbietungen. So etwas haben Sie noch nie gesehen, so etwas werden Sie auch nie mehr sehen. Das gibt es nur bei uns und nur noch für kurze Zeit!
Doch was das Publikum über Jahre stundenlang um Karten hat anstehen lassen, das hat mittlerweile seine ganz große Faszination verloren. Da kann Moon noch so viele Schwerter in den nicht blutenden und schmerzunempfindlichen Leib seines Assistenten rammen, kann mit seiner besonderen Gabe die verborgensten Geheimnisse eines Zuschauers gnadenlos ans Licht der Öffentlichkeit zerren, der Saal bleibt halb leer. Damit nicht genug ist auch sein Stern am Himmel der besseren Gesellschaft im Sinken befindlich. Früher umschwärmter Mittelpunkt der Soireen, muss er jetzt froh sein, überhaupt eine Einladung zu erhalten.
Nach den letzten Misserfolgen als genialer Helfer Scotland Yards hat zudem sein Ruf als Detektiv gelitten. Anders als Sherlock Holmes, der vor seiner Langeweile Zuflucht in dem Genuss von Drogen suchte, kompensiert er seinen gesellschaftlichen Niedergang über den Besuch eines Bordells für Herren mit ganz besonderen Neigungen. Die Damen des Gewerbes weisen alle eine körperliche Deformierung auf. Nur in ihren Armen kann er den nur zu oft tristen Alltag, die Kränkungen und den Spott vergessen. Um der Langeweile zu entfliehen, fasziniert ihn nichts so sehr wie die Suche nach Täter und Motiv. So stürzt er sich voller Elan auf einen neuen Fall, der den Yard vor Rätsel stellt.
Zwei junge Männer aus guter, begüterter Familie stürzen zu Tode. Selbstmord, oder ein Verbrechen? Das Motiv bleibt auch bei näherem Hinsehen schleierhaft. Zusammen mit seinem geheimnisvollen Assistenten macht sich Edward Moon auf, die mysteriösen Vorgänge um die tödlichen Stürze zu untersuchen. Schon bald stoßen sie dabei auf Ungereimtheiten. Ausgerechnet die Mütter der Verstorbenen bauen eine Mauer des Schweigens auf, verbindende Elemente geschweige denn ein Motiv sind zunächst nicht zu entdecken.
Doch nicht nur der Yard ist an den Vorkommnissen interessiert. Auch das Direktorium, eine Art britischer Westentaschen-Geheimdienst hat Lunte gerochen. Auftritt für Mr. Skimpole, einem mehr als unangenehmen Zeitgenossen. Der Albino, der dem mysteriösen Direktorium vorsteht, verpflichtet Moon gegen dessen Willen zur Mitarbeit. Und wirklich finden Moon und sein Gehilfe, der riesenhafte, stumme Schlafwandler, endlich eine Spur. Gerüchte wissen von einem Schläfer zu berichten, der unter der britischen Metropole liegt und träumt. Träume von Machtübernahme, Träume von einer Umgestaltung der Gesellschaft, Träume von der Pantiskratie, die die Menschheit zu neuen Ufern führen soll. Geheimnisvolle Informanten, Wahrsager und Denunzianten, sie alle sind sich einig, in zwei Tagen wird London, wie wir es kennen, untergehen ...
Ein bunter Strauss kurioser Gestalten, verrückter Einfälle und einer unvorhersehbaren Handlung
Was ist das für ein Buch, das auf der britischen Insel für Furore gesorgt hat, das Menschen quer durch alle Schichten fasziniert und an seine Seiten gebunden hat?
Ein Buch, das zu Beginn den Leser ausdrücklich von der Lektüre abrät: ";Seien Sie gewarnt - diese Buch besitzt keinen wie auch immer gearteten literarischen Wert"!
Oder aber auch:
";Eine letzte Sache, eine letzte Warnung: Im Geiste der Fairness sollte ich noch einräumen, dass ich Beweggründe haben werde, Ihnen mehr als nur eine glatte Lüge aufzutischen".
Es ist ein Buch, das anders ist, als alles, das ich bisher gelesen habe. Und wenn man, wie ich viel liest, dann ist allein dies eine Empfehlung für ein Werk. Damit nicht genug, ist dies ein Buch, der sich in keine Rubrik einreihen lässt. Kriminalroman, phantastisches Werk, ein historischer Roman - alle Elemente dieser Genres werden verwandt, fügen sich harmonisch zu etwas Neuem.
Es ist aber auch ein Buch der absonderlichen Gestalten und übersprudelnder Ideen. Sei es der Fliegenmensch, eine Jahrmarktsattraktion, der Schlafwandler, den scheinbar nichts umbringen kann, der aber gleichzeitig stumm wie er ist, nur über eine Tafel mit seiner Umwelt kommuniziert, ein Mann, der rückwärts in der Zeit lebt, ein toter, nur allzu präsenter Dichter, zwei nie versagende Mörder, Skrimpole oder Moon selbst - sie alle vereinigen sich zu einem wahren Kabinett der Kuriositäten.
Und nicht zuletzt ist es ein faszinierend spannendes Buch, das zum Schmökern einlädt.
Ein Buch, das stilistisch zu überzeugen weiß, das voller Zynismus fabuliert und dabei jederzeit überraschend bleibt.
Anders als bei vielen Detektiv-Geschichten kann der Leser nicht mitraten, kann sich aus den Hinweisen und Beschreibungen unmöglich selbst die Lösung erschließen. Hinter jeder Ecke lauern neue Erkenntnisse, tauchen weitere Geheimnisse und Verwicklungen auf. Dabei vermeidet der Autor geschickt, ausgetretenen Pfaden zu folgen. Einen Dr. Watson sucht man vergebens, der Schlafwandler bleibt über die ganze Länge des Romans hinweg rätselhaft, ist nie nur Stichwortgeber, sondern eher Teil des Mysteriums.
Auch der zunächst im Dunkel bleibende Erzähler, der gleich zu Anfang deutlich macht, dass er Moon verabscheut, dass er einen persönlichen Bezug zur Handlung hat und mit Neid und Missgunst die Taten unserer Spürnase dokumentiert, trägt zum Lesegenuss bei. Wenn auch das Finale ein wenig überstürzt daherkommt, bleibt die Handlung bis zum Ende hin überraschend und fesselnd.
Man merkt dem Buch einfach an, mit wie viel Freude am Fabulieren der Autor an sein Werk gegangen ist, eine Tour-de-Force für Bauch und Hirn, ein Titel, der allzeit überraschend, dabei aber letztlich folgerichtig und in sich logisch und spannend auf hohem Niveau zu unterhalten weiß.
Jonathan Barnes, Piper
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