Kreativer Horror eines Meisters
Stephen King ist der Horror-Schriftsteller der Gegenwart. Er hat über 40 Romane geschrieben und unzählige Kurzgeschichten und damit das Genre geprägt wie kein anderer. Über 400 Millionen Mal haben sich bis dato seine Bücher verkauft. Durch sein neuestes Werk ";Wahn" kommen bestimmt noch einige dazu.
Der Bauunternehmer Edgar Freemantle scheffelte bisher Aufträge und Millionen und lebte zufrieden mit Frau und zwei Töchtern. Dann verunglückt er auf einer Baustelle: Er verliert einen Arm und erleidet schwerste Kopfverletzungen. Ab da ist sein Sprachzentrum gestört, er hat unbeherrschbare Wutanfälle, leidet unter Gedächtnislücken und unter schrecklichen Schmerzen. Seine Ehe geht darüber in die Brüche. Sein Psychiater überredet den selbstmordgefährdeten Bauunternehmer auf die Florida-Insel Duma Key zu fahren und sich dort zu erholen. Er solle sich wie zuletzt in seiner Jugend im Malen versuchen, denn er brauche ";einen Schutzwall gegen die Nacht." Als seelisches Wrack kommt der Bauunternehmer auf die Insel, mietet ein einsam gelegenes Haus, lernt die alzheimerkranke, 85-jährige Elizabeth Eastlake kennen, der fast die ganze Insel gehört und ihren Pfleger Wireman. Und er malt wie besessen und zu dem Erstaunen aller mit unglaublichen Talent.
Gemälde erwachen zum Leben
Bei den rauschhaften Malanfällen, die oft die ganze Nacht dauern, hat Edgar intensive Phantomschmerzen. Er glaubt seinen fehlenden Arm zu spüren, manchmal bildet er sich ein, ihn sogar zu sehen oder mit ihm Gegenstände berühren zu können. Nach diesen kreativen Schüben hat Edgar Heißhungerattacken und ist bleimüde. Aber trotz - oder gerade wegen dieser Besessenheit - Freemantle heilt wirklich. Das ruhige Leben auf der Insel und seine aufkeimende Freundschaft zu Wireman wirken Wunder.
Aber seine Bilder entwickeln ein dämonisches Eigenleben. Fischerboote, die er malt, werden auf ihnen immer mehr zu einem schwarzen Totenschiff und Motive wie harmlose Muscheln oder Sonnenuntergänge wirken auf jeden Betrachter beklemmend bedrohlich. Edgars Talent - wie auch seine Phantomschmerzen - steigern sich bis zu dem Punkt, an dem Freemantle die Wirklichkeit durch seine Bilder beeinflussen kann. Dann fragt ihn Elizabeth in einem klaren Moment, ob er schon begonnen habe ";das Schiff" zu malen...
Offensichtlich existiert eine unheimliche Macht auf Duma Key, die ihn als Instrument mißbrauchen will. Zusammen mit Wireman enthüllt Edgar Elizabeths tragische Familiengeschichte, um Hinweise zu finden, was zu tun ist. Die Zeit drängt, denn der schädliche Einfluss, den Edgars Bilder ausüben, wächst ihm über den Kopf.
Das Böse schleicht sich ein
Die Spezialität von King ist, dass das Unheimliche sich langsam anschleicht. So auch hier. Im Original heißt das Buch ";Duma Key". ";Wahn" ist nur der deutschte Titel, der aber den Nagel auf den Kopf trifft, denn das Grauen passiert hier vor allem im Kopf, sowohl in dem vom Edgar als auch in dem des Lesers. Edgar hat Visionen, Ängste plagen ihn, er muss seinen Unfall verarbeiten und damit klar kommen, dass sein Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde. King erlitt 1999 selbst einen schweren Autounfall. Diese Erfahrung fließt hier mit Sicherheit ein, so authentisch wirken die Beschreibungen.
Ein weiteres zentrales Thema ist die zweischneidige Macht der Kreativität, schaffend, aber auch zerstörend. ";Wahn" lebt in den ersten 700 Seiten davon. Alle die im Buch genial sind, sind dies, weil sie nicht ";ganz richtig im Kopf sind." Wörtlich, denn durch Unfälle oder Selbstmordversuche haben sie Gehirnverletzungen davongetragen. Sie sind genial, aber werden dadurch erst zum Ventil für die zerstörerische Macht, die auf der Insel lauert. Hautnah vermittelt King diese Atmosphäre, wenn er den besessenen Malprozess beschreibt.
Fast nebenbei baut sich das Grauen in dem Buch auf. King hat keine Scheu davor einen einfachen Spaziergang am Meer oder dschungelhafte Vegetation subtil unheimlich werden zu lassen. Der Leser spürt, riecht, sieht und hört das Böse, das sich ganz langsam entfaltet. Er hofft zwar wie die Edgar, dass alles irgendwie gut wird, aber er weiß auch, die Hoffnung stirbt zuletzt. Happy-Ends sind bei King selten.
Greifbarer Horror als Nachschlag
Erst in den letzten 150 Seiten kommt der reale Horror, handfest und mit klassischer Monster-Besetzung. Freemantle und seine zwei Freunde müssen in einem verlassenen Herrensitz der Quelle des Bösen, Perse, gegenübertreten, die die Form einer Porzellanpuppe hat. Gerade erst ihrem Gefängnis entkommen, will sie sich nicht wieder bannen lassen und hetzt ihre dämonenhaften Diener, Wasserleichen, zombiehafte Kinder und Fabelwesen auf die Eindringlinge. Das Trio muss gewinnen bevor die Sonne untergeht. Wer hat mehr Asse im Ärmel?
Es ist ein packendes Ende voll waschechter Action. Genau das richtige für alle Puristen unter den Horrorfans, die bisher in ";Wahn" nicht richtig auf die Kosten kamen. Alle anderen werden die Seiten davor packender finden. King hat mit ";Wahn" keinen Horrorreißer von der Stange geschrieben, sondern einen fesselnden Roman über Freundschaft, Einsamkeit und das stets lauernde Grauen. Aber gleichzeitig schuf er einen intelligenten Roman über Inspiration, Kreativität und den schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn.
Stephen King, Heyne
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